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Erik Neutsch Erik Neutsch: Auf der Suche nach Gott

Von Andreas Montag 30.05.2003, 13:11

Halle/MZ. - Es sind zwei Abschiede, von denen Erik Neutsch in seinem neuen Buch "Verdämmerung" erzählt - der von seiner Frau, deren Sterben er begleitet hat, und der vom verschwundenen Land DDR, dem sie beide, der Schriftsteller und die Lehrerin, bis zuletzt verbunden waren. Entstanden ist ein Text, der sich keinem Genre wirklich zuordnen lässt, mal Tagebuch, mal Erzählung, mal Traktat ist. Was ihn, so sehr die Teile auseinander streben, zusammenhält, ist der Versuch, das Bleibende auszumachen. Sagen wir getrost, auch wenn sich Neutsch stets als Atheist bekannt hat: die Suche nach Gott.

Nun wird man die Schutzlosigkeit, bis zu der sich der um seine große Liebe Trauernde entblößt, kaum bewerten wollen. Wie nahe sich Neutsch selber kommt im Angesichts seiner todkranken Frau, verdient Respekt. Mit seinen Ansichten zu den Dingen der Welt indes hat er die Debatte eröffnet und wird, nicht ohne eine gewisse Vorfreude, auf das Echo warten.

Für Nachfragen der politischen Art hat sich Neutsch mitunter als dritte Person maskiert (wohl mehr aus erzählerischem Pflichtgefühl als in der Absicht, ernstlich seine Spur zu verwischen) und einen argumentativen Fixpunkt entdeckt. Oder sollen wir Standpunkt sagen? Es wird ihn das Wort aus alten Zeiten nicht kränken - eben weil er geradezu lustvoll für sich reklamiert, mit dem Rücken zur Wand zu streiten. Das wirkt manchmal rührend, ja naiv (einen Träumer nennt ihn seine Frau) - und manchmal ausgesprochen aufgesetzt, wenn man ahnt, dass der Autor klüger ist, als sein Protagonist es zu sein vorgibt.

Teilt man die Welt in Aufrechte (zu denen man natürlich selbst gehört), Opportunisten (die man schon immer im Verdacht hatte) und den bösen, kapitalistischen Rest, geschieht womöglich das Gegenteil des Erhofften: Der Leser steigt aus der Lektüre, wie der Autor und seine Frau am 4. November 1989 die Fernseh-Übertragung der Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz ausgeschaltet haben: "Es ist zum Kotzen. Hör dir bloß der Reihe nach diese Schauspieler und Schriftsteller an, die Kollegen aus deiner Gilde... Und sie merken nicht einmal, daß sie sich zum Sprachrohr ganz anderer Mächte machen lassen". Ach je.

Natürlich trug manches Lamm jener Tage einen Wende-Pelz, wir wissen es längst. Wohl sind die allermeisten von uns DDR-Bürgern weder richtig schwarz noch richtig weiß, sondern eben aus Gewöhnung grau gewesen - auch wenn sich manchem mit den Jahren manche Schattierung ins Helle verklärt. Und wahr ist, dass Kapitalismus kein Synonym für die Glückseligkeit aller ist. Auch das wussten wir schon. Neutsch antwortet mit trotzigen Feststellungen: "Jedenfalls war es für die deutsche Geschichte ein Segen, daß sich vierzig Jahre lang eine Gesellschaft hielt, in der andere Werte galten als das Geld."

Das ist so ein Punkt. Da weiß er es doch selber besser: "Sind wir denn inzwischen ein Staat von Funktionären? Sind die miteinander gar verklüngelt und verquickt wie eine Sekte?", lässt er seine Frau fragen und erzählt Geschichten vom Genossen Horst S., der wohl Sindermann heißt und ein anderer wurde, nachdem er in den Wandlitz-Zirkel aufgenommen worden war. Berichtet, wie er sich mit dem obersten SED-Mann des Bezirkes Halle wegen Wahlbetrugs anlegte und dass er, selbst Mitglied der Bezirksleitung, von der Stasi bespitzelt worden ist. Neutsch aber übt den Spagat, sucht die Werte ungeachtet ihrer Verkommenheit hoch zu halten: Nicht das System hat den Verrat der Ideale produziert, sondern manche Genossen haben sich von der Linie der Revolution entfernt.

Z-TITEL: "Sind wir denn inzwischen ein Staat von Funktionären?"

In den "Gazetten und Fernsehkanälen", von Politikern wie Historikern werde diese Republik, die DDR, "gesehen im barbarischen Dunkel, beherrscht von den Mächten der Finsternis", räsoniert der gelernte Journalist. Es kann eben nicht sein, was nicht sein darf...

Die Radikalität, mit der er nach Gerechtigkeit fragt, die berührende Offenheit, mit der er seine Frau um Vergebung bittet, das Anarchische seines Glücksanspruchs und die Beklommenheit vor der Ewigkeit - all das verdient dem grantigen Gottsucher wider Willen viel Sympathie. Dass er dem Projekt DDR keinen Tritt verpasst, ist begreiflich. Es ehrt ihn auch. Leicht ist es nicht, sich das Scheitern einer Herzens-Sache zu gestehen. Daran aber scheitert der Erzähler.

Erik Neutsch: "Verdämmerung", Scheunen-Verlag 2003, 110Seiten, 12 Euro.