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Erfurter Schulmassaker Erfurter Schulmassaker: Umstritten: «"Für heute reicht's" - Amok in Erfurt»

Von Marc-Oliver von Riegen 26.01.2004, 18:06
Neben einem Mikrofon liegt das Buch "Für heute reicht's - Amok in Erfurt" der Berliner Autorin Ines Geipel, aufgenommen am Mittwoch (21.01.2004) in Erfurt bei der Vorstellung des Buches. Rund 500 Menschen kamen dazu am Abend in die Erfurter Kaufmannskirche, darunter viele Schüler und Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums. In dem Buch beschreibt die Autorin ihre Recherchen um die Bluttat am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, bei der der 19-jährige Ex-Schüler Robert Steinhäuser am 26.April 2002 16 Menschen erschossen und sich dannach selbst getötet hatte. (Foto: dpa)
Neben einem Mikrofon liegt das Buch "Für heute reicht's - Amok in Erfurt" der Berliner Autorin Ines Geipel, aufgenommen am Mittwoch (21.01.2004) in Erfurt bei der Vorstellung des Buches. Rund 500 Menschen kamen dazu am Abend in die Erfurter Kaufmannskirche, darunter viele Schüler und Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums. In dem Buch beschreibt die Autorin ihre Recherchen um die Bluttat am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, bei der der 19-jährige Ex-Schüler Robert Steinhäuser am 26.April 2002 16 Menschen erschossen und sich dannach selbst getötet hatte. (Foto: dpa) dpa

Erfurt/dpa. - Knapp zwei Jahre nach dem Erfurter Schulmassaker mit 17 Toten hat die Berliner Autorin Ines Geipel die Tragödie wieder in die Diskussion gebracht. Das Buch «"Für heute reicht's" - Amok in Erfurt» beschreibt die Bluttat des 19-jährigen Robert Steinhäuser und geht kritisch auf den Polizeieinsatz, die Versorgung der Opfer und die Betreuung der Hinterbliebenen ein. Geipel spricht von einem literarischen Sachbuch, mit dem sie offen gebliebenen Fragen, aber auch Ungereimtheiten nachgehen will. Sie erhebt darin Vorwürfe gegen Einsatzkräfte, Ermittler und die Landespolitik.

Die Autorin, die an der Hochschule für Schauspielkunst «Ernst Busch» in Berlin lehrt, bedient sich im Buch der Figur Elsa. Sie steht stellvertretend für Studenten, die selbst Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums waren und Fragen zur Tat stellten, schreibt die Autorin im Vorwort. Elsa führt den Leser nach Erfurt - unmittelbar am Tag der Tat, bei der der ehemalige Gutenberg-Schüler an seinem Gymnasium 16 Menschen erschoss und sich danach selbst tötete. «Ich will wissen, was hier geschehen ist», sagt Elsa, die als Alter Ego der Autorin erscheint.

Das Buch, für dessen Titel sich Geipel ein angebliches Zitat des Attentäters beim Zusammentreffen mit Lehrer Rainer Heise auswählte, lässt das Massaker wie eine Art Film ablaufen. Passagen über die Tat werden umrahmt von Zeugenaussagen, der Beschreibung Steinhäusers, seinem Hang zu Gewalt-Videospielen, seiner ehemaligen Schule und den Ergebnissen der Ermittlungen. Dabei bleiben literarische und beschreibende Strecken allerdings mitunter nebeneinander stehen. Die Autorin zitiert auch aus Ermittlungsakten und Funkverkehr. Sie hat nach eigenen Angaben fast ein Jahr lang in Erfurt recherchiert und mit vielen Menschen gesprochen, darunter den Anwalt Eric Langer, der seine Lebensgefährtin verlor.

Der Einsatz von Polizei, Spezial- und Rettungskräften ist nach Darstellung der Autorin mit Fehlern abgelaufen. Geipel kritisiert unnötiges Kompetenzgerangel, fehlende Absprachen, ein wenig professionelles Rettungsteam und eine ausbleibende Koordinierung der medizinischen Versorgung. Kritik wird auch gegen die Landesregierung und den vorläufigen Abschlussbericht zur Tat laut: «Jener bis heute vorläufige Endtext ist an Vagheit und Inhaltslosigkeit durch nichts zu überbieten.» Der Bericht verschweigt aus Geipels Sicht etwas. All das führt Elsa im Buch zu der Frage: «Heißt das, das Massaker wäre zu verhindern gewesen?» Hintergrund ist die Kritik, dass Einsatzkräfte wegen der anfänglichen Frage nach einem zweiten Täter das Gebäude erst nach und nach durchkämmten. Die Landesregierung setzte inzwischen eine Kommission ein, die offenen Fragen nachgehen soll.

Geipel lässt Elsa auch auf die Suche nach Ursachen gehen. Sie sieht dabei einen Schulverweis von Robert Steinhäuser rund ein halbes Jahr vor der Tat als «fatale Schlüsselszene für den 26. April 2002» und Start eines Aufrüstungsprogramms mit Waffen. Der Täter scheint unter anderem auch zu einem Opfer des damaligen Thüringer Schulsystems zu geraten, nach dem gescheiterte Gymnasiasten keinen Abschluss hatten. Die Autorin setzt in ihrem Buch zudem das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald, Kindereuthanasie in Jena und das Erfurter Massaker in eine geschichtliche Reihe. «Diese drei Fälle beziehen ihren Zusammenhang aus der politischen Kultur des Landes.»

Für Aufsehen sorgt im Buch die Beschreibung eines angeblichen Warnanrufs in der Schule von einem Mitglied der Familie Steinhäuser zwei Tage vor der Tat. Während Schuldirektorin Christiane Alt das als Unwahrheit bezeichnete, beruft sich die Autorin auf ihre Quellen. Etwaige sachliche Fehler weist sie zurück. Dass Erfurt noch lange nicht zur Normalität zurückgekehrt ist, zeigte die Lesung Geipels am 21. Januar in der Stadt, in der es passierte. Viele Schüler und Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums kamen und warfen der Autorin vor, sie habe Wunden wieder aufgerissen. «Warum diese Aufregung?», fragte Geipel während der Lesung. «Sie haben mehr kaputt gemacht, als es gut war», hieß es aus dem Publikum.

Ines Geipel: «Für heute reicht's» - Amok in Erfurt; Rowohlt Berlin Verlag, Berlin; 256 Seiten, 16,90 Euro; ISBN 3-87134-479-6