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Deutsches Theater Göttingen Deutsches Theater Göttingen: Verschwommene Bilder und gestochen scharfe Polaroids

Von Andreas Hillger 02.05.2001, 15:52

Göttingen/MZ. - Während in den bestensbesetzten deutschen Intendanten-Büros undden nachgeordneten Debattier-Stuben derzeitnoch ein heftiger Generations-Konflikt tobt,der durch die vermeintliche Dominanz derAltvorderen beim Berliner Theatertreffen ausgelöstwurde, diskutiert unter anderen ein Haus amHarz längst die Ursachen anstelle der Symptomefür solchen kreativen Kindstod. Mit der Doppel-Premierevon Lutz Hübners "Ausnahmezustand" und MarkRavenhills "Gestochen scharfe Polaroids" wolltedas Deutsche Theater Göttingen nicht nur denallgemeinen Rükzug vom Politischen ins Privateverhandeln, sondern zugleich konkrete Trauerarbeitleisten. Denn Hübners Auftragsarbeit war alsReflex auf einen authentischen Fall gemeint.

Heiko Sensts Lesart freilich löste sich schnellvom Schicksal der Göttinger Studentin CorneliaW., die am 17. November 1989 auf der Fluchtvor der Polizei von einem Auto erfasst undgetötet worden war. An die Stelle der dokumentarischenRecherche, die eine eskalierende Konfrontationzwischen rechten Skinheads, linken Autonomenund einer von politischen Ressentiments unterwandertenStaatsgewalt als Ursache für den tödlichenUnfall nachzeichnet, traten artistisch verrätseltePsycho-Studien zu familiären und gesellschaftlichenGrundkonflikten. Dabei nahm die mit vier Schauspielernund erstaunlich professionellen Jugendlichenbesetzte Inszenierung ihre Geschichte zumAnlass für disparate Geschichten.

Vom antiken Chor, der faschistische Parolenin heikler Gleichberechtigung zu Zeitungs-Schlagzeilenskandierte, spannte sich das formale Spektrumüber die raunende Erzählung eines Grimm-Märchensbis zu konkreten Dialog-Situationen zwischenstaatstreuem Vater und revoltierender Tochter.

Dass diese Teile kein Ganzes ergeben konnten,hatte wohl auch mit der ausweichenden Positiondes Autors zu tun, der seiner Materialsammlungpartout keine eindeutig zu identifizierendenTäter und Opfer einschreiben wollte. Unterstütztwurden seine changierenden Perspektiven zudemdurch Andrea Kannapees Bühnenraum, der lediglichmit leeren Aktenregalen und einem Papierwoll-Haufenaus dem Reißwolf die kollektive Bereitschaftzum Vergessen assoziierte.

In diesem Spielzimmer wurde entlang eineroptischen Leitlinie, die sich auf halbem Wegevom Gazeschleier zur Eisenkette verwandelte,vieles angedeutet und wenig ausgesagt. Dasssich - neben eher platten als provokanten -Pawlowschen Reflexstudien über die Nachahmungvon Menschenaffen durch Rechtsradikale zudemein kurzschlüssiger Diskurs über das Verhältnisvon westdeutschen Gastgebern und ostdeutschenZuzöglingen einschlich, bewies die mangelndeHaftung des Stückes am annoncierten Gegenstandendgültig. So blieb es ein Präludium für diefolgende Miniatur, die eine präzise Situationstatt einer allgemeinen Befindlichkeit beschrieb.

Während sich bei dem eigentlich routiniertenAutor Lutz Hübner nämlich vor allem die Fragenach der Unfähigkeit zur direkten Darstellungder eigenen politischen Erfahrungswelt stellte,lieferte Ravenhill mit seinen "Polaroids"tatsächlich ein gestochen scharfes Gegenstück.Statt der Weichzeichnungen und Schattenrisse,die sich jeder klaren Fixierung entzogen,sah man bei ihm eine Momentaufnahme der britischenGesellschaft, deren klare Konturen durchausals Vorbild gelten können. Regisseur OliverSchamberger spürte in der Geschichte des einstigenTerroristen Nick, der sich nach seiner Entlassungaus der Haft in einer verzweifelt fröhlichenRunde aus Mitgestaltern und Verweigerern desZeitgeistes wiederfindet, Trauer und Wut überden Verlust der individuellen Verantwortungfür gemeinschaftliche Entwicklung auf.