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Deutsche Oper Berlin Deutsche Oper Berlin: Ein Totentanz für das endliche Leben

Von Matthias Frede 06.11.2001, 16:53

Berlin/MZ. - Es ist wohl bestenfalls eine akademische Frage, ob Verdis "Messa da Requiem" von 1874 angesichts ihrer realistischen Dramatik zu opernhaft sei zur Vermittlungchristlicher Botschaften. Denn nicht so sehr des Himmels als vielmehr der Menschen zwischen Leben und Tod wird hier gedacht. Strittig aber bleiben alle Versuche, das monumentale oratorische Werk aus dem Konzertsaal ins Musiktheater zu verfrachten. Doch nun hat sich auch derBühnenmagier Achim Freyer darauf eingelassen und an der Deutschen Oper Berlin, wo er 1985 bereits Händels "Messias" in Szene setzte, erstmals eine eigene Bebilderung gewagt, deren Premiere fast unisono bejubelt wurde.

Er möchte seine Inszenierung den "Opfern ideologischer Gewalttaten aller Jahrhunderte" widmen. Dies legitimiert er indes weder mit platten Aktualisierungen noch sentimentalen Illusionen, sondern durch das ebenso empfindsame wie höchst artifizielle Faszinosum eines scheinbar endlosen und unglaublich bildhaften Reigens menschlicher Existenz: als Totentanz der Lebenden, des endlichen Lebens selbst. Nicht die ohnehin peinliche Illustrierung von Musik hatte derGesamtkunstwerker (Regie, Ausstattung, Licht) dabei im Sinn. Er folgt jedoch ihrem permanenten Fluss, verlegt die Szene zwischen Raum und Zeit gleichsam nach innen, indem er Metaphern erfindet, Figuren, Gesten, Farben, Formen,die Zeichen und Formel der Komposition, aber keine simple Kulisse sind.

Jenseits jeder realen oder gar banalen Handlung gelangen ihm dennoch faszinierend sinnliche Bilder von enormer Ausdruckskraft. Gleichend einembuchstäblich laufend bewegten und bewegenden Fries, erzählen sie über "geläuterte Emotionen" auf drei Ebenen. Tief unten die gewaltigen, archaischen Toten-Chöre der "Gegangenen", in der Mitte das durch ständige gestischeWiederholung von Gewalt, Zerstörung, Angst und vager Hoffnung kündende Dasein der Menschheit, während ganz oben metaphysische Figuren dominieren: ein weißer und ein schwarzer Engel, der Krieg und ein gekreuzigter Seiltänzer sowie der Schatten eines Schnitters mit vier bedrohlichenSensen an Armen und Beinen. In das einem apokalyptischenMysterienspiel verwandte Geschehen sind die Solostimmen des Requiems ebenfalls integriert und zudem mit allegorischen Namen versehen worden - bravourös gesungen von Eva Johanssonals bisweilen aggressiver Sopran-Engel, Ulrike Helzel (Mezzosopran) als tödliche, erotomane Buhlschaft, Reinhard Hagen (Bass) in der Klage-Rolle des "Beladenen" mit Gottvaters Schädel im Strahlenkranz auf den Schultern und Miroslav Dvorsky (Tenor) als in den gefürchteten Spitzentönen etwas angestrengter Turm-Gefangener namens"Einsam".

Aus dem Untergrund aber erweist sich der vonUlrich Paetzholdt fabelhaft einstudierte Chor des Charlottenburger Zimmermann-Hauses zugleich als vitaler Akteur und glänzendes Instrumentarium, vor allem beim fulminanten "Dies irae", dem feuerrot flammenden Tag des Zorns, sowie im bußfertig emporsteigenden finalen "Liberame". Über der Gruft hingegen vollzieht sich in stetiger Wiederkehr die Zeitlupe der "Gehenden", artistisch verkörpert durch Darsteller des Freyer-Ensembles und gipfelnd im gefährlich furiosen Purpur-Wirbel des tänzerischen "Sanctus". Alles ist unablässig in Bewegung, immer von links nach rechts. Nur einmal, mittendrin,geht es kurzzeitig zurück, entgegen der strengen Struktur - Freyers menschliche Utopie, "die mit der Fähigkeit zum Denken beginnt"?

Unter Michael Boders akzentuierter, wenngleich gelegentlich harscher musikalischer Leitunghat der Maler-Philosoph und Bühnen-Visionär letztlich eine Requiem-Szenerie realisiert, die Verdis einzigartige Totenmesse zu grandiosen Theater-Bildern verführt. Und abseits des müßigen Streits um solche Interpretationentraf Berlins neuer Opernchef Udo Zimmermann damit nach Nono-Konwitschnys "Intolleranza" offensichtlich seine zweite gute Wahl für ein künstlerisch anspruchsvolles Programm.

Nächste Aufführungen: 14. und 17. November, 19.30 Uhr.