Der Forscher: nackt Der Forscher: nackt: Was der Abend über Erkenntnisdrang und seine Grenzen erzählt

Berlin - Brecht am Berliner Ensemble, im „Wohnzimmer“ des Dramatikers am Schiffbauerdamm. Und dann auch noch der „Galilei“ - das ist ein Haupt- und Staatsakt in der Theaterwelt samt ihrer Gemeinde. Und eine Attraktion auch für Berlin-Besucher aus aller Welt. Entsprechend groß ist der Andrang nach Karten, deutlich leerer wird es nach knapp drei Stunden zur Halbzeitpause im Saal. Regie hat Frank Castorf geführt, bis vor zwei Jahren Hausherr der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Eine Stunde über den Plan
Von daher hat man wissen können: Bühnen-Quickies sind Castorfs Sache nicht. Der „Faust“, mit dem er sich in großer Form von seinem Haus verabschiedete, dauerte sieben Stunden. Für „Galileo Galilei. Das Theater und die Pest“ werden im Programmheft fünf Stunden Spielzeit veranschlagt. Am Sonntag, zur zweiten Aufführung nach der Premiere am Abend zuvor, wurden es sechs.
Man braucht also Sitzfleisch wie Konzentration. Und wird dafür mit einer Inszenierung belohnt, die zwar (wie üblich bei Castorf, der kein Ende finden kann) ohne Not eine Stunde zu lang ist - doch überwiegend sehr dicht, mit mehr Poesie als Kalauern und tiefernst bei aller Komik.
Das Ganze wird getragen von einem heldenhaft in Textgebirgen agierenden Ensemble um Jürgen Holtz in der Titelrolle. Mit ihm beginnt das Spiel - und wie er da plötzlich steht, ein splitternackter Greis von 86 Jahren, stockt einem schon der Atem.
Aber die Idee ist bezwingend gut und hat überhaupt nichts von effekthaschender Peinlichkeit: Hier sehen wir den im besten Sinne naiven (und im Übrigen ewig in Geldmangel lebenden) Forscher, einen Renaissance-Bruder des Faust. Galileis Erkenntnisdrang indes ist von reiner Unschuld. Dies - und seine Not beschreibt seine Blöße recht gut.
Dass nicht wenige Zuschauer wohl eigens deshalb gekommen sind, Holtz zu sehen, der einem breiten Publikum als Fernseh-Ekel Motzki in der ARD bekannt geworden ist, erweist sich spätestens beim Schlussmonolog.
Da hockt der Gebrochene, der unter Androhung von Inquisitionsfolter seinem, dem katholischen Dogma widersprechenden Wissen über den Lauf der Gestirne und den Platz der Erde im Weltall abgeschworen hat. Ein Bild der Verzweiflung, wenngleich voller Würde.
Während Jürgen Holtz also spricht, in einem schwarzen Gewand jetzt, und sich selbst aus dem Kreis der Wissenschaftler ausschließt, packen etliche Zuschauer, vor allem Damen in den besten Jahren, ihre Smartphones aus und halten munter drauf. Wie beim Helene-Fischer-Konzert.
„Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden“, sagt Galilei. Überhaupt, Castorf arbeitet sehr werktreu. Das muss er auch tun, die Brecht-Erben liegen immer auf der Lauer und stoppen schon mal eine Inszenierung. Castorf hat es in München mit seinem „Baal“ selbst erlebt.
Zur philosophisch-moralischen Diskussion über die Erkennbarkeit der Welt und den Mut, gefundene Wahrheit auch gegen die Macht zu behaupten, wenn dies den Menschen dient, gesellen sich zwei miteinander verflochtene Parallelstränge.
Gewisse Selbstverliebtheit
Zum einen der Exkurs über die Pest (und für welche Seuche sie heute stehen könnte), zum anderen über das Besondere des Theaters. Hier wird, so gern man Wolfgang Michael und Aljoscha Stadelmann auch zusieht, der larmoyanten Selbstverliebtheit des Regisseurs (und der Spiellust seiner Darsteller) ein bisschen zu viel Platz eingeräumt. Und manchmal dauert es dann einfach zu lange, bis man wieder zum Eigentlichen, zu Galilei, kommt.
Nichtsdestotrotz: Ein über weite Strecken starker Theaterabend. Der Brecht ist noch ganz lebendig. Man muss ihn nur abholen. Wie Castorf es jetzt tat.
Nächste Vorstellungen: Sa/So, jeweils um 18 Uhr; Kartentelefon Mo-Sa 10-18.30 Uhr: 030/284 08 155
(mz)