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Der 17. Juni 1953 in Bitterfeld-Wolfen Der 17. Juni 1953 in Bitterfeld-Wolfen: Aufstand der Friedfertigen

Von Andreas Montag 15.06.2003, 17:52

Bitterfeld/MZ. - "Die Volkspolizei der Filmfabrik Wolfen wird hierdurch ermächtigt, keine Leute in die Filmfabrik hineinzulassen, die nicht im Besitz eines ordnungsgemässen, mit Lichtbild versehenen gültigen Ausweises sind", beginnt ein kurzer, sauber getippter Text, datiert am Schicksalstag 17. Juni 1953. Eventuelle Zusammenrottungen vor der Fabrik sollen "im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung" zerstreut werden. Unterschrieben hat namens der Streikleitung Werner David.

Dieses Dokument gehört zu den Schätzen, die der in Berlin lebende Historiker Olaf Freier im Merseburger Landesarchiv ausgegraben hat, wohin sie, ordentlich registriert, aus der Bezirksbehörde der Volkspolizei Halle gelangt sind. Wie gut, dass die Genossen dort so deutsch und ordentlich waren, alles abzuheften. Schließlich belegen dieses und andere Schreiben eine regionale Besonderheit des Aufstandes in der DDR: In Bitterfeld, Wolfen und der dazwischen liegenden Gemeinde Greppin hat es, anders als in Halle etwa, vergleichsweise wenig Gewalt gegeben. Das in den Mittagsstunden des Tages entstandene Machtvakuum hingegen nutzte die von den insgesamt wenigstens 30000 Demonstranten autorisierte Streikleitung zum Beispiel durch die provisorische Einsetzung eines Bitterfelder Bürgermeisters zur faktischen Machtübernahme. Zugleich sorgte sie in den Betrieben für Ruhe, verhängte ein Ausschankverbot für Alkohol und achtete darauf, dass weder die Energieversorgung noch die kontinuierlichen Produktionsprozesse unterbrochen wurden.

Bis zum Eintreffen der sowjetischen Panzer am Nachmittag waren nach Freiers Erkenntnissen die staatlichen und SED-Behörden nicht nur zu keinem Widerstand fähig, sondern existierten eigentlich gar nicht mehr. Für dieses Phänomen gibt es verschiedene, miteinander verbundene Ursachen. Zum einen dominierte die Industriearbeiterschaft die Zahl der Aufständischen stärker als anderorts, die Verflechtung der Familien mit den Betrieben war intensiver. Im kleinstädtisch und ländlich geprägten Einzugsbereich der Wolfener Film- und Farbenfabriken sowie des Elektrochemischen Kombinates Bitterfeld war es, zugespitzt, so, dass jeder jeden kannte - was die Autorität der Streikführer gestärkt und größere Gewaltausbrüche in Grenzen gehalten haben dürfte.

Die Gebäude der SED, das Kreisamt der Volkspolizei und die Dienststelle der Staatssicherheit sind zwar besetzt worden, "dort wurde natürlich auch randaliert" (Freier), es kam zur Aktenvernichtung, aber Häuser sind nicht in Flammen aufgegangen, es fiel kein Schuss. Das ging auch auf das Konto des Bitterfelder Polizeichefs Josef Nosseck. Er hatte die Waffen einschließen lassen, so dass weder seine Männer noch die Aufständischen sich der Gewehre bemächtigen konnten. Für seinen Mut ist Nosseck zwei Wochen später "wegen Kapitulation und Feigheit vor faschistischen Provokateuren" vom VP-Kommandeur zum Unterwachtmeister degradiert und aus der Deutschen Volkspolizei ausgestoßen worden.

Die "Provokateure" und "Rädelsführer" selbst wurden gnadenlos gejagt. Dabei ist es am 23. Juni in Spören bei Zörbig zu einer bizarren Tragödie gekommen: Wegen einer Namensverwechslung klopften die Fahnder nicht bei dem Mann, den eine anonyme Gruppe von SED-Leuten denunziert hatte, sondern bei einem bestens beleumdeten, klassenbewussten Genossen. Der verlor die Nerven, wollte sich nicht festnehmen lassen und wurde "auf der Flucht erschossen".

Da war der Aufstand der Friedfertigen längst durch die Androhung von Waffengewalt erstickt, die meisten Streikführer hatten sich in den Westen absetzen können oder waren, wie Paul Othma, verhaftet worden. Und in der DDR ging fortan alles seinen bleiernen Gang.