Denkmäler Denkmäler: Die Herrin der Türme

Köln/dpa. - Gerüstbauer hängen in mehr als hundert Metern Höhe ihre Streben und Stege an einen Turm, Bildhauer modellieren Punkt für Punkt eine bröckelnde Heiligenfigur in Gips nach, Steinmetze meißeln filigrane Blätter aus dem Trachyt-Gestein, Glasmalerinnen erwecken verblasste Fenster wieder zum Leben. Die Aufgabe ist gigantisch, aber die Kölner Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner hofft, dass keiner der Touristen und Gläubigen das Gefühl hat, eine Baustelle zu besuchen: «Je besser ich meine Arbeit mache, desto weniger nimmt man sie wahr.»
Der Kölner Dom ist der stärkste Touristenmagnet Deutschlands. Mit etwa sechs bis neun Millionen Besuchern jährlich stellt er nicht nur die Rüdesheimer Drosselgasse und das Reichstagsgebäude in Berlin in den Schatten, sondern macht auch dem Münchner Oktoberfest Konkurrenz. Zugleich ist der Dom eine ewige Baustelle, die tief ins Mittelalter zurückreicht. 1248 begannen die Bauarbeiten, gingen 300 Jahre lang weiter, lagen bis ins 19. Jahrhundert still. 1880 wurde das Gotteshaus fertig, aber Wetter, Luftverschmutzung und Bomben setzten ihm zu.
Die Arbeit geht den Experten der Dombauhütte deshalb nie aus. Mit ihren Künstlern und Handwerkern könnte sie selbst zur Attraktion werden. Aber sie hält sich im Hintergrund, steht fast versteckt an der Rückseite des Doms, ein unscheinbarer Backsteinbau zu ebener Erde, der Innenhof mit den Werkstätten liegt einen Stock tiefer und ist für Besucher nicht geöffnet.
Wer hier arbeitet, muss viel können, aber für die künstlerische Selbstverwirklichung ist wenig Raum. «Einen Michelangelo könnte ich hier nicht brauchen», sagt Hüttenmeister Uwe Schäfer, «wir sind Handwerker. Sehr gute Handwerker vielleicht, aber eben keine Künstler.» Wenn Statuen oder Verzierungen ausgetauscht und Fensterbilder ergänzt werden müssen, geht es darum, die Originale am gotischen Dom möglichst genau nachzuempfinden.
Der Steinmetz Markus Schroer hat damit keine Probleme. Er ist schon seit 25 Jahren bei der Dombauhütte, und seinen beruflichen Stolz bezieht er aus der langen Reihe von Meistern, in der er steht. «Ich bin ja in einer Tradition. Es ist wunderbar, da hineinzugehören.» Er bewundert die Arbeit seiner Vorgänger, die vor hunderten von Jahren am Dom gebaut haben, und hofft, dass in Zukunft einmal seine Nachfolger vor seinen Werken stehen, mit ebenso anerkennendem Blick.
Dabei hat auch Schroer seine Freiheiten. Er arbeitet gerade an Kapitellen, kleinen Säulen, die oben mit Ornamenten abgeschlossen sind. Wie die verwitterten Originale genau aussahen, ist nicht mehr zu erkennen, nur das Prinzip ist klar: Steinernes Laub umkränzt jedes Kapitell. Also ging Schroer in die Natur, fotografierte Laub, modellierte Studien. Nun arbeitet er in eine Serie Ranken ein, Efeu und Wein zum Beispiel.
Jedes Kapitell sieht anders aus, selbst die Rückseiten, die nur jemand sieht, der auf den Dom hinaufsteigt, sind ausgearbeitet. Die Frage, ob nicht computergesteuerte Maschinen Kapitelle nach einem Modell in Masse produzieren könnten, stellt sich für ihn nicht, selbst wenn der komplizierte Stein das mit sich machen ließe. «Der Baukörper hätte keinen Ausdruck mehr. Vielleicht merkt kein Betrachter, dass jedes Kapitell anders aussieht. Aber wenn sie alle gleich wären - das würden Sie merken.»
In allen Unikaten, die in den verschiedenen Werkstätten entstehen, steckt viel Zeit und Arbeit. Materialkosten für Stein, Holz, Glas, Blei und Farben spielen eine vergleichsweise kleine Rolle. Der größte Teil des Dombauhüttenetats von gut sechs Millionen Euro jährlich geht in Gehälter. Mehr als 80 Menschen arbeiten am Dom, Bildhauer und Steinmetze, Dachdecker und Gerüstbauer, ein Schmied und ein Malermeister, Elektriker und Schreiner, Archäologen und Archivare, Sekretärinnen und Kunsthistoriker, Restauratoren und Glasmaler.
Ulrike Brinkmann kümmert sich unter anderem um die Fenster. Alle wurden gestiftet, viele von ihnen zur Vollendung des Doms 1880, auch jüdische Familien zählten zu den Mäzenen. «Licht ist ein unberechenbarer Faktor», sagt die Kunsthistorikerin Brinkmann. Deshalb ist es so schwer, zerbrochene oder verblasste Scheiben zu ersetzen, ohne dass das Gesamtbild hinterher wie ein Flickenteppich wirkt.
Das vermeidet auch Glasmalerin Aline Dold. «Die Handschrift bleibt schon die eigene, aber es macht Spaß, sich der Handschrift der früheren Künstler so weit wie möglich anzunähern», sagt sie. Experten könnten aber immer erkennen, wo in einem Bild etwas erneuert wurde. 7000 Quadratmeter bemaltes Glas hat der Dom, und wenn Restauratorin Carola Müller ein Stück davon auf den Tisch bekommt, betrachtet sie es wie einen Patienten: Sie ermittelt seine Vorgeschichte, stellt eine Diagnose, verabreicht die Therapie und dokumentiert alles.
Bildhauer Michael Oster hat es dagegen oft mit hoffnungslosen Fällen zu tun. Wenn Wind, Wetter und Luftverschmutzung einer Statue so sehr zugesetzt haben, dass auch ein Vollbad in Acryl sie nicht mehr retten kann, dann muss er sie ersetzen. «Wir wissen im Prinzip, wie sie aussehen, aber nicht im Detail.» Also empfindet er den Christopherus mit dem Jesuskind auf der Schulter nach, so weit es irgend geht, und schafft in Monate langer Arbeit ein Gipsmodell.
Das wiederum dient als Vorlage für Steinmetze, und Oster legt Wert darauf, das sie möglichst genau umgesetzt wird. Auch hier gibt es die kleine Freiheit, die die Bildhauer schon seit Jahrhunderten nutzen. Zahlreiche Figuren tragen das Antlitz von Menschen, die wirklich gelebt haben. Nicht nur Meister Gerhard, der erste Dombaumeister, zählt wahrscheinlich dazu. Bei den meisten Gesichtern wussten beziehungsweise wissen nur die Künstler, wen sie verewigt haben, sei es der Meister, bei dem sie lernten, oder das kleine Patenkind.
Der Kölner Dom ist zugleich ein heiliger Ort und ein politisches Symbol, eine Touristenattraktion und eine Baustelle. Dombaumeisterin Schock-Werner hat keinen Zweifel daran, dass die Menschen im Mittelalter vor allem religiöse Motive für den Bau hatten. «Das ist ein Gebäude zu Ehren Gottes, ein Abbild des Himmels, und das hat man auch ernst gemeint.»
Bei der Entscheidung im 19. Jahrhundert, den Dom zu vollenden, kamen andere Motive hinzu. Auch hier spielten religiöse Gefühle eine Rolle. Napoleons Truppen hatten die Kirche entweiht. Außerdem entdeckten Kulturhistoriker das Mittelalter wieder. Und Politiker wurden aufmerksam: «Der Dom war ein Symbol für die deutsche Nation, weil er augenfällig unvollendet war», sagt Schock-Werner.
Seit der Vollendung arbeitet die Dombauhütte daran, das Bauwerk zu erhalten. Noch immer sind nicht alle Beschädigungen aus dem Zweiten Weltkrieg beseitigt. Und noch immer müssen Steine ausgetauscht werden, die dem Zahn der Zeit nicht standgehalten haben. Aber das ist die Ausnahme. «Die Steine, die noch da sind, versuchen wir, wenn es irgend geht, zu erhalten», sagt Schock-Werner.
Dabei hilft, dass die Luft inzwischen sehr viel sauberer geworden ist. Außerdem wurde in Italien ein Steinbruch gefunden, dessen Trachyt haltbarer ist als der ursprünglich verwendete Stein vom Drachenfels in der Nähe Bonns.
Für den Dom, zumindest für seine Würde, gibt es aber nicht nur die großen Gefahren. Vor vier Jahren blies die Dombaumeisterin zum Beispiel zum Angriff gegen die Kaugummis. Fünf bis zehn Stück pro Quadratmeter waren im Lauf der Jahre auf dem Domfußboden festgetreten worden. Mit Wasserdampf und einer Art Staubsauger wurden sie entfernt.
Kindern mit Gasballons erklären die Domschweizer, warum sie nicht in die Kirche dürfen: Spätestens seit ein greller Teletubby-Ballon über dem Altar unter der Decke hing, wissen alle, wie schwer sich solche Verunzierungen wieder herunterholen lassen.
Die Würde des Doms spüren nicht nur die Gläubigen bei den gut besuchten Sonntagsmessen und die Touristen, sondern auch die Mitarbeiter der Dombauhütte. «Sie sehen, das ist für Gott gebaut», sagt Bildhauer, Steinmetz und Hüttenmeister Uwe Schäfer. Egal, wie viel Stress er hat - wenn er die verschiedenen Baustellen im Dom inspiziert, verweilt er immer wieder, um die Anblicke auf sich wirken zu lassen. Die religiöse Dimension, die das Gebäude hat, sei zu spüren, sagt er.
Barbara Schock-Werner (56) ist seit 1999 die Herrin der Türme - die erste Frau in der langen Tradition der Dombaumeister. «Im Mittelalter gab es zwar Handwerkerinnen, aber auf Baustellen hatten Frauen nichts zu suchen, und das galt bis ins frühe 20. Jahrhundert», sagt die Architektin und Professorin für Kunstgeschichte. Als sie Anfang der 80er Jahre ihre Doktorarbeit über mittelalterliche Dombaumeister schrieb, hatte sie einen Traum: «Das wäre ein Beruf für dich.» Zugleich warnte sie sich selbst: «Das war noch nie eine Frau, das wirst du nicht werden.»
Ein Irrtum, wie sich zeigte. Priesterin darf eine Frau nicht werden in der katholischen Kirche, ganz zu schweigen von Bischöfin oder Päpstin. Aber die Männer im Klerus hatten kein Problem damit, eine Frau mit der Leitung der ältesten deutschen Baustelle zu betrauen. Sie sieht sich jedoch nicht als Technokratin. «Natürlich baue ich auch zur Ehre Gottes. Ich bin ein gläubiger Mensch.»
Abgesehen von ihrer akademischen Karriere fühlte sie sich auch gut vorbereitet, weil sie mit ihrem Mann zwei Kinder groß zog. Das ständige Umschalten zwischen verschiedensten Aufgaben - diese Fähigkeit kann sie in der Dombauhütte gut brauchen für das, was sie die «Abteilung Wahnsinn» nennt: «Es läuft nichts so an dieser Kirche wie geplant.» Das verleidet ihr aber nicht die Arbeit. Natürlich werde sie in Köln bleiben, sagt Schock-Werner: «Ich kann ja nicht mehr aufsteigen. Das ist schon ein Traumberuf.»