Das Spiel mit den Populisten Das Spiel mit den Populisten: Hallescher Arzt Maaz über die Gesellschaftskrise

Halle (Saale) - Das ist schon ungewöhnlich für einen Arzt, erst recht für einen wie den in Halle beheimateten Hans-Joachim Maaz (77), der als gestandener Analytiker, Ostversteher und Buchautor („Der Gefühlsstau“) große Bekanntheit genießt. Mit gewissermaßen vor Selbsterregung bebender Stimme gesteht er in der Einführung zu seinem neuen, soeben bei C. H. Beck erschienenen Band „Das gespaltene Land“ ein: „Meine ,Weltanschauung‘ hat sich scheinbar gedreht, ohne dass ich mich bewusst oder für mich selbst erkennbar verändert hätte.“ Das ist zweifellos ein ernstzunehmendes Symptom. Ob dessen Feststellung aber hinreicht für eine gesellschaftspolitische Analyse, wird zu prüfen sein.
Maaz zitiert den Schriftsteller Oskar Roehler, der vom Erschrecken eines Mannes darüber Mitteilung macht, plötzlich nicht mehr linksliberal zu sein. So geht es dem Therapeuten offenbar auch. Seine daraus folgenden Thesen kreisen um die vermutete Ursache dieser Veränderung:
Maaz: Kenne viele, die heimlich AfD wählen
Den als desolat beschriebenen Zustand der etablierten politischen Parteien und das von Zweifeln und Enttäuschung geprägte Innenleben vieler Menschen, die gleich ihm die Bindungskräfte des Gemeinwesens schwinden sähen: „Ich kenne inzwischen viele, die heimlich AfD wählen ... und darin einen letzten Versuch sehen, ihrem Protest gegen die Gesellschaftsentwicklung noch demokratisch Ausdruck zu verleihen“, schreibt Maaz.
Da fragt man sich natürlich sofort, wie denn die vom Verfasser unterschwellig, aber klar angedeutete nächste Eskalationsstufe wohl aussehen soll: Bürgerkrieg der besorgten Bürger? Oder Massenauswanderung, wohin auch immer? Was darf es denn sein?
Maaz sieht Gesellschaftskrise
Immerhin, Maaz sieht eine Gesellschaftskrise, worin man ihm zustimmen kann - auch wenn das Wort Krise jetzt und auf unabsehbare Dauer vor allem in Verbindung mit dem Coronavirus besetzt sein dürfte. Dessen Auftreten konfrontiert uns gerade auf unerwartete und erschreckende, aber auch durchaus kathartische Weise mit den Unzulänglichkeiten unserer oft gedankenlosen Wohlstandsbürgerlichkeit.
Aber diese Krise zeitigt auch Effekte von Solidarität und Einsicht, wie man sie noch vor Wochen für ebenso undenkbar gehalten hat wie die Ausbreitung des Virus selbst in unserem Land.
Vorwurf an SPD und Grüne: grundsätzliche Kapitalismuskritik
Freilich: Wenn nach der Pandemie auch ihre schlimmsten Folgen leidlich abgefangen sein werden, sind die Probleme, von denen Maaz jetzt alarmierend schreibt, mit einiger Wahrscheinlichkeit noch immer ungelöst. Er hält den Parteien, zumal der SPD und den Grünen, denen er eigenem Bekunden zufolge lange zuneigte, vor, sie hätten eine grundsätzliche Kapitalismuskritik (ein Wort, das Maaz in An- und Abführung setzt, weshalb auch immer) zugunsten der Teilhabe an der Macht aufgegeben.
Der Autor kommt hier zu einer vernichtenden Diagnose: Über die aktuellen Themen sei kein Gespräch erwünscht, besonders über die „ungelöste Migrationsproblematik“ und die europäische Geldpolitik nicht. Das klingt nach AfD-Propaganda und läuft, ungeachtet aller Relativierungsversuche, auch darauf hinaus: Da es keinen überzeugenden demokratischen Diskurs mehr gebe, werde eine Partei gewählt, „die von vielen ihrer Wähler gar nicht an die Macht gewünscht wird, die aber wenigstens den Unmut in die Länderparlamente und in den Bundestag bringt“.
Maaz gibt Schützenhilfe
Nur muss man einem Arzt doch nicht sagen: Ein bisschen schwanger gibt es nicht. Gleichwie, der Zustand der Gesellschaft scheint ernst, wenn nicht hoffnungslos - will man der Diagnose von Maaz glauben: Der Mainstream bringe keine Zukunftsvisionen mehr auf die Beine, „das Krisenhafte unserer Lage“ werde geleugnet, vertuscht oder moralisierend und ideologisierend verteidigt.
Es kommt noch deftiger: „Andererseits wird der millionenfache Protest nicht als Potential für Erkenntnis und Veränderung genutzt, sondern soll am liebsten durch den Verfassungsschutz erstickt werden“, schreibt Maaz. Über diese Schützenhilfe werden sich die Herrschaften vom formal gerade selbst aufgelösten, rechtsextremen „Flügel“ der AfD um Björn Höcke bestimmt freuen.
Für die herrschenden Eliten sieht es in Maaz’ Analyse hingegen bitter aus, „denn sie haben am meisten zu verlieren, nicht nur Macht und Geld, es stehen auch ihre lebensprägenden und bisher so erfolgreichen Selbst-Entfremdungen zur Disposition“.
Allerdings schwant es dem Autor am Abend des Therapeuten dann irgendwie doch, dass es auch mit der „Minderheit der Protestler“ (die kurz zuvor noch nach Millionen zählten) kein glückliches Ende nehmen könnte: „Den Beteiligten dient die Kritik vielleicht auch nur zur Abwehr von Selbst-Entfremdung ... Aber als Opposition sind sie natürlich unverzichtbar.“
Gesellschaft bewusst handelnder, freier Individuen
Dabei gebe es keine Garantie, „dass ein Machtwechsel wirklich zu Verbesserungen führt - wenn man, wie ich es tue, nicht nur äußere Veränderungen, sondern innerseelische Erkenntnis mit wirklicher psychosozialer Reife zum Maßstab macht“.
Maaz schwebt eine Gesellschaft bewusst handelnder, freier Individuen vor, die historische Schuld am Erkennen eigener Schuldhaftigkeit messen. Das riecht allerdings nach Umwertung, auch wenn die These in psychoanalytisch gewürztem Sud geköchelt wird. Auf diesem Denkweg mögen ihm manche sicher folgen wollen. Andere bestimmt nicht. Man kann sich auch fragen: Hat sich hier jemand nur vergaloppiert - oder ist er endlich bei den Populisten angekommen? (mz)
››Hans-Joachim Maaz: „Das gespaltene Land. Ein Psychogramm“, Verlag C. H. Beck, München, 218 S., 16,95 Euro