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Das Gespräch Das Gespräch: "Der Mensch ist ein hochmütiges Tier"

Von Michael Hesse 19.09.2014, 12:09
Peter Sloterdijk, hier auf einem Foto aus dem Jahr 2011.
Peter Sloterdijk, hier auf einem Foto aus dem Jahr 2011. Getty Images Lizenz

Köln - Herr Sloterdijk, Sie bezeichnen die Menschen der Moderne in Ihrem Buchtitel als „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“. Hinter diesem Gedanken steckt die Figur des Abtrünnigen, das Losreißen von den Eltern. Was hat dieser Bruch mit der Tradition bewirkt?

Peter Sloterdijk: Ich beschreibe die Moderne als ein umfassendes anti-genealogisches Experiment. Dieses gründet in dem Umstand, dass es keine kulturellen Automatismus mehr gibt, der auf gesicherte Weise von Großeltern zu Kindern zu Enkeln führt.

Peter Sloterdijk, Jahrgang 1947, ist einer der populärsten deutschen Gegenwartsphilosophen. Er studierte in den siebziger Jahren in München und Hamburg, wo er auch promovierte. Seit 2001 ist er Rektor der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe , wo er auch Philosophie und Ästhetik lehrt. Fernsehbekannt wurde er als Moderator der Gesprächsreihe „Das Philosophische Quartett“ im ZDF. Sein aktuelles Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ erscheint bei Suhrkamp.

Eltern und Kinder werden einander immer unähnlicher?

Sloterdijk: Unvermeidlich, auch weil die Lebenswelten sich so rasch verändern. Die Moderne lässt keinen anderen Befund zu. Die herkömmliche Orientierung am Wissen der Alten geht fast völlig verloren, das Alter als solches verliert seine Autorität. Damit beginnt das Zeitalter der immer unähnlicheren Kinder.

Zeit des Nacheiferns ist vorbei

In Ihren Augen ist das Zeitalter des großen Bruchs zwischen den Generationen das 19. Jahrhundert?

Sloterdijk: Es ist vor allem die Zeit des Realismus. Er bedeutet, dass die Jungen erst gar nicht anfangen, werden zu wollen wie die Eltern. Die modernen Kinder begreifen mehr und mehr, dass das Leben der Erwachsenen eine hohle Komödie darstellt. Kasper Hauser konnte noch den Satz wiederholen: „Ich möchte einmal ein solcher werden, wie ein anderer einmal gewesen ist.“ Die typischen Modernen wollen genau das eben nicht. Um keinen Preis wollen sie so werden, wie einmal ein anderer gewesen ist.

Was wollen sie stattdessen?

Sloterdijk: Sie wollen sie selber sein – und „wie sie selber“. Sie wissen noch nicht, dass Individualität und Monstrosität konvergieren. So strebt im Grunde jeder und jede danach, ein Monstrum zu werden, eine Singularität, ohne zu begreifen, was das wirklich bedeuten würde Man hat vergessen, dass geglückte Individualität in Spezies-Ähnlichkeit besteht beziehungsweise in der persönlichen Variation eines Typus, indessen der Mensch, der die vollkommene Unverwechselbarkeit erlangen würde, in der Vereinsamung des letzten Menschen landet, oder des letzten Tiers. Monstrum ist, wer ganz unwiederholbar ist. Für ein solches Wesen fällt der Gedanke an Nachkommenschaft von selbst beiseite.

Der Mensch der Moderne wäre also grundsätzlich ein Monster?

Sloterdijk: Man muss das Wort recht verstehen: Die Monstren der griechischen Urzeit sind aus der Paarung der Erdmutter Gaia mit einem männlichen Ur-Ungeheuer hervorgegangen. Aus dieser ersten schrecklichen Umarmung entstehen die zahllosen Scheusale, von denen die griechische Mythologie so viel verstanden hat: die Sphinx, die Schimäre, die Hydra Das starke Merkmal des klassischen Monstrums ist, dass es immer das erste, das letzte und einzige seiner Art darstellt. Dieser Befund enthält die erste Lehre vom Individuum. In der Moderne kehrt diese als Lehre vom letzten Menschen wieder.

„Gerede von Gesellschaft wirkt zerreißend“

Warum bricht diese Tendenz gerade im 19. Jahrhundert auf?

Sloterdijk: Das 19. Jahrhundert steht im Zeichen einer fixen Idee, die man die soziale Frage nannte. Sie kreist um das Problem: Wie hängen Menschen mit Menschen wirklich zusammen? Das 19. Jahrhundert verrennt sich in die falsche Antwort, welche lautet: Durch Gesellschaft, das heißt durch Sozialisation und Klassensolidarität. Der reale Zusammenhang, der genealogische, tritt in den Hintergrund. Die genealogische und die soziale Frage laufen seither in entgegengesetzte Richtungen. Je mehr man von „Gesellschaft“ faselt, desto mehr zerreißen die genealogischen Linien. Der Bruch zeigt sich besonders krass in den USA als dem Heimatland der entlaufenen Söhne und Töchter.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Korruption ein Resultat der Existenz ist - und welche Menschen für Sloterdijk nicht korrupt sind.

In Ihrem Buch schreiben Sie von der Idee der Erbsünde und möchten diese als Urform von menschlicher Korruption begreifen. Wie kann sich ein heutiger Philosoph für die Erbsünde interessieren?

Sloterdijk: Ich habe die alte Doktrin der Erbsünde gegen das Licht gehalten, um herauszufinden, ob da etwas hindurchscheint, was man nach Abzug der theologischen Überspannung weiter ernst nehmen kann.

Was förderte Ihre Sichtung zutage?

Sloterdijk: Die Tendenz zur Korruption. Begnügt man sich mit den Aussagen von Paulus und Augustinus zur sündigen Verfassung des Menschen, erliegt man christlichen Übertreibungen. Den Erbsünden-Theologen ist eine Tendenz zur Einwilligung zur Überbestrafung des Menschen durch Gott gemeinsam: Ein einziges Mal ein wenig Ungehorsam im Paradies, folglich 5000 Jahre Vertreibung, Tod, Elend und Höllenangst. Diese augustinische Doktrin zählt zu den dunkelsten Erbstücken alteuropäischer Überlieferung. Seit 200 Jahren verblasst diese Tradition, zu unserem großen Vorteil, die Zeit ist reif, sich das Problem der Korruption aus einer völlig anderen Sicht vorzunehmen.

Korruption als Resultat der Existenz

Ist Korrumpierbarkeit eine Art Grundbedingung seiner Existenz, wie der deutsche Philosoph Martin Heidegger es formulierte?

Sloterdijk: Ich lege Wert auf die Feststellung, dass Korruption kein Existenzial ist, sondern ein Resultat. So wie ich auch Wert darauf lege, Hoffnung, anders als Ernst Bloch, nicht als Prinzip, sondern als Effekt oder als Gelegenheit zu deuten. Da verzweigen sich die Wege zwischen denen, die den absoluten linken Optimismus vertreten und den anthropologischen Realisten, die einräumen: zu Hoffnung gibt es tatsächlich hin und wieder Anlass, aber nicht im Modus eines Prinzips, das die Geschichte insgesamt bewegt.

Gibt es Beispiele für Menschen, die nicht korrupt sind?

Sloterdijk: Natürlich: Mir fallen aktuell die Namen von Noam Chomsky und Jetsun Pema ein, der Schwester des Dalai Lama. Sie sind den Dämonen der Korruption ein Leben lang erfolgreich aus dem Weg gegangen.

Laut Augustinus könnten auch solche Menschen der Ur-Korruption nicht ausweichen.

Sloterdijk: Die augustinische Erbsündenlehre ist radikal dunkel angelegt, weil der Theologe den Menschen als rebellisches Tier beschreibt. Ausgenommen sind die Heiligen und der menschgewordene Gott mit dem Prädikat „besonders demütig“. Der gewöhnliche Mensch ist nach Augustinus ein hochmütiges Tier.

Und dies wäre zugleich der Beginn seiner Korrumpierbarkeit?

Sloterdijk: Mit dem Hochmut fängt dort alles an: Einmal den Kopf zu hoch gehoben, einmal sich selbst zu gut gefallen, und schon geht es hinunter in die Gottferne. In moderner Terminologie würde man von einer narzisstischen Krise sprechen. In den Spiegel schauen, sich selber für einen Augenblick vor Gott bevorzugen: schon hat die Höllenfahrt begonnen.

Und diese Verdrehung ist bei Augustinus aus eigenen Stücken nicht korrigierbar.

Sloterdijk: Wenn man seine Lehre von der Prädestination liest, bleibt auch für die sogenannten Gläubigen aus seiner Sicht nur geringe Hoffnung. Im Himmel wäre ja gar nicht Platz für alle. Dort müssen nur die Plätze nachbesetzt werden, die durch den Aufruhr der Engel freigeworden sind. Das sind nicht viele. Für die meisten Erlösungskandidaten sieht es ziemlich düster aus.

„Die Welt ist voller schlechter Beispiele“

Wie kommt man, wenn man die Erbsündenlehre ablehnt, als moderner Mensch auf die Seite der Guten?

Sloterdijk: Dazu gehört die idealistische Verbindung von Naivität und Reflexion. Es gibt Leute, die werden aufgrund von Reflexion wieder so anständig, wie man sonst nur dank einer ersten naiven Gutmütigkeit hätte sein könnte: vor der Begegnung mit der Schlechtigkeit des Lebens, vor der Berührung mit dem schlechten Beispiel, das so viele Menschen aus der Bahn wirft. Man kann hoch reflektiert wieder naiv anständig werden.

Die Existenz der korrupten Anderen verdirbt den Menschen?

Sloterdijk: Die Welt ist voll von lauter schlechten Beispielen. Seit die Moderne den Helden, den Weisen und den Heiligen abgeschafft und den erfolgreichen Schurken als Leitbild proklamiert hat, ist die Korruption im Vormarsch. Überall, wo Menschen nicht die Dummen sein wollen, setzt sich die Macht des schlechten Beispiels durch.

Ist die Welt im letzten Jahrhundert besser oder schlechter geworden?

Sloterdijk: Das ist eine heikle Frage. Ich persönlich glaube, sie ist seit einer Weile dabei, besser zu werden. Für viele Zeitgenossen hat es den Anschein, die Zeiten seien noch nie so schlimm gewesen. Doch dies ist, mit Verlaub, narzisstischer Pessimismus, denn die Zeitgenossen von heute in der Ersten Welt haben kein Recht, ihre Komplikationen mit den Dunkelheiten des 30-jährigen Kriegs oder der Jahre von 1914 bis 1945 zu vergleichen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum sich heute ungeschützt jeder mit jedem vergleicht und warum dadurch das Bewusstsein zur Zufriedenheit verschwindet.

Wie steht es mit dem Erbe, das über die generationellen Intervalle hinweg weitergereicht wird?

Sloterdijk: Das 20. Jahrhundert hat die alte Welt der genealogischen Beziehungen in die Luft gesprengt. Das deutlichste Kennzeichen dessen ist, in welchem Maß die Diskriminierung des unehelichen Kindes vor dem Gesetz erloschen ist: Restlos. Eher beobachtet man jetzt eine Tendenz zur positiven Diskriminierung der vormals Benachteiligten. Seelische Erbgänge sind heute eher etwas für die Psychotherapeuten geworden. Sobald ein Kind seinen Eltern zu sehr ähnelt, bringt man es zum Arzt. Wenn es nicht funktioniert wie im psychologischen Bilderbuch, setzt man therapeutische Hebel an.

„Alltägliche Vergleiche führen zu Vergiftungen“

Was aber die materiellen Verhältnisse angeht und ihre Verfestigung durch das Erbrecht, ist es nicht an der Zeit, zur Rebellion aufzurufen angesichts der wenigen Reichen, welche die Welt unter sich aufteilen?

Sloterdijk: Mit reichen-feindlichen Aufrufen erreicht man das Gegenteil dessen, was zu wünschen wäre, nämlich die intelligente Korrektur der wachsenden Asymmetrien auf vielen Ebenen. Das betrifft naturgemäß auch den klugen Gebrauch der sozialen Ungleichheiten. Weil Status, Stand und Klasse als soziale Regulative fast ganz verschwunden sind, ist heute jeder dazu verurteilt, sich ungeschützt mit jedem vergleichen. Das muss Vergiftungen ohne Ende erzeugen. Die meisten Menschen sind nicht dafür geschaffen, sich distanzlos mit den Erfolgreichsten zu vergleichen. Die Älteren von früher haben den Jungen gesagt: Es kommt darauf an, mit dem, was man hat und mit dem, was man ist, zufrieden zu sein. Diese Lebensklugheit ist durch massenmediale Trends hinweggefegt worden. Wir leben in einer Gesellschaft aus Stars, die nur noch nicht entdeckt sind.

Ist es nicht ein Problem, dass nur ein Prozent alles hat?

Sloterdijk: Die Reden über das eine Prozent beruhen auf optischen Täuschungen. Ist es nicht umgekehrt so, dass ein Promille die Ideen produziert, von denen praktisch alle leben? Genauer ein Promille von einem Promille.

Sie meinen, es seien wirklich so wenige?

Sloterdijk: Was die entscheidenden technischen, therapeutischen und ästhetischen Errungenschaften der modernen Welt angeht, kommen sie durchwegs von Leuten, die gegenüber ihren „Gesellschaften“ überhaupt nicht ins Gewicht fallen. Alles, was Menschen der Ersten Welt heute haben und sind, die Reichen, die Mittleren wie die Ärmeren, haben sie und sind sie aufgrund der Tatsache, dass eine verschwindend kleine Gruppe von Personen die Initialzündungen für Entwicklungen geliefert haben, von denen die meisten unermesslich profitieren. Ich fürchte, in dem populären Hass gegen die Reichen, der sich als Sinn für Gerechtigkeit ausgibt, verbirgt sich eine wütende Undankbarkeit vieler gegenüber den Geistreichen, denen letztlich fast alle fast alles verdanken.

„Die Jungen fangen gar nicht erst an, werden zu wollen wie die Eltern.“ Die Zeit des Nacheiferns ist vorbei, die Jungend will lieber sie selbst sein, so Sloterdijk.
„Die Jungen fangen gar nicht erst an, werden zu wollen wie die Eltern.“ Die Zeit des Nacheiferns ist vorbei, die Jungend will lieber sie selbst sein, so Sloterdijk.
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Für Sloterdijk ist Korruption kein Existenzial, sondern ein Resultat.
Für Sloterdijk ist Korruption kein Existenzial, sondern ein Resultat.
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Hochmut ist für Sloterdijk der Beginn einer Abwärtsspirale, die in einer „narzisstischen Krise“ enden kann.
Hochmut ist für Sloterdijk der Beginn einer Abwärtsspirale, die in einer „narzisstischen Krise“ enden kann.
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Die Älteren Generationen lehrten Zufriedenheit mit dem was man hat und ist, so Sloterdijk. „Diese Lebensklugheit ist durch massenmediale Trends hinweggefegt worden.“
Die Älteren Generationen lehrten Zufriedenheit mit dem was man hat und ist, so Sloterdijk. „Diese Lebensklugheit ist durch massenmediale Trends hinweggefegt worden.“
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