Christa Wolf Christa Wolf: Versuch, das Leben mitzuschreiben
HALLE/MZ. - Die letzte rundum neuwertige Veröffentlichung der Autorin liegt sechs Jahre zurück: das Buch "Ein Tag im Jahr", vierzigmal der jeweils 27. September, geschildert von 1960 bis ins Jahr 2000.
Frühestens für den Herbst ist ein neuer Titel angekündigt: ein Roman mit dem Arbeitstitel "Stadt der Engel". Die kalifornische Millionenstadt Los Angeles ist gemeint, in deren Küstenvorort Santa Monica sich Christa Wolf 1993 zurückgezogen hatte nach dem Öffentlichwerden ihrer von ihr selbst vergessenen Stasi-Zuarbeit von 1959 bis 1962. Die Quellen hat sie 1993 unter dem Titel "Akteneinsicht Christa Wolf" veröffentlicht. Es ist die einzige von einem Autor vollständig vorgelegte "Täter"-Akte.
Bei Suhrkamp, Christa Wolfs Heimatverlag, reichte es allein für eine DVD-Edition der Wolf-Verfilmungen "Der geteilte Himmel" (1963) und "Selbstversuch" (1989). Aber ein Büchlein der Freundschaft und Verehrung ist zu haben, veröffentlicht bei Wallstein von 77 Autoren, Künstlern, Politikern. Das Büchlein trägt den Titel "sich aussetzen. das Wort ergreifen".
Genau das tut Christa Wolf heute nicht. Sie hat sich aus dem politischen Raum zurückgezogen in den Kreis der Verehrer, Freunde und der Familie. Das öffentliche Wort hatte zuletzt 1990 sehr heftig nach der Autorin gegriffen. Genaues und Richtiges, aber genauso viel Falsches, auch Ehrabschneiderisches war in dem "Literaturstreit" gesagt worden, in dem kaum ein ostdeutscher Literat das Wort nahm, schon gar nicht Christa Wolf selbst. Die Debatte über die gesellschaftliche Rolle der Intellektuellen vor 1989, die sich an Wolfs Erzählung "Was bleibt" entzündete, ist ja sinnvoll, in der überfallartigen Manier von 1990 aber wurde sie einseitig und betriebsblind, am Ende ergebnislos und kräftemäßig unsymmetrisch vollstreckt. Das westdeutsche Feuilleton schlug zu, ohne dass es im Osten ein Pendant gegeben hätte; das gibt es bis heute nicht.
Christa Wolf sollte als "Staatskünstlerin" vorgeführt werden, aber sie war und ist eine Gesellschaftsschriftstellerin. Das Wort "Gesinnungsästhetik" wurde in Umlauf gebracht, obwohl bei Christa Wolf von einer Besinnungs-, besser Selbstbesinnungsästhetik die Rede sein muss. Einer Ästhetik, die um die Begriffe Erfahrung und Subjektivität kreist. Immer ist da dieser Gestus: Wer spricht? Worüber? Was hat das mit mir zu tun? Eine Prosa also, die den Leser in seiner je eigenen Individualität bestärken kann. Mit denkwürdigen, längst klassischen Titeln wie "Nachdenken über Christa T.", "Kindheitsmuster", "Kein Ort. Nirgends" oder "Kassandra". Erbauungsliteratur? Das kommt auf den Blickwinkel an. Erschütterungsliteratur ist es in jedem Fall. Eine Literatur der Erschütterung von ideologischen und persönlichen Heilsgewissheiten.
Es ist hierzulande üblich, eine historische Epoche geradezu haftpflichtig von ihrem Ende her zu bewerten. Im Blick auf das Dritte Reich kommt man mittlerweile davon ab, im Blick auf die DDR noch nicht. Der hatte sich Christa Wolf buchstäblich verschrieben, die als Tochter eines Lebensmittelhändlers und späteren NSDAP-Mitläufers im neumärkischen Landsberg, heute Gorzów, geboren wurde.
1948 trat die vormalige BDM-Führerin-Anwärterin in die FDJ, im Jahr darauf in die SED ein. Marxismus und SED waren für sie "genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland geschehen war". Germanistikstudium in Jena und Leipzig, Arbeit im Deutschen Schriftstellerverband, Lektorentätigkeiten in Berlin und Halle. Es ist der Remigrant Louis Fürnberg, der Christa Wolf auf dem Weg zum eigenen Schreiben bestärkt.
1961 debütiert sie mit der "Moskauer Novelle", die sie als vorliterarisch nicht in ihre Werkausgabe aufnimmt, die 13 Bände zählt. Gesellschaftlich und literarisch findet Christa Wolf in Anna Seghers (1900-1983) ihr Vorbild. Als sozusagen SED-loyale Dissidentin geht Christa Wolf ihren tapfer-hemmungsvollen Weg. "Alternativlos" wie sie sagt: weder im Westen, seit Ende der 60er Jahre schon nicht mehr im Osten tatsächlich zuhaus. Im Juli 1989 verlässt sie, nach außen hin geräuschlos, die SED.
Den Anderen niemals zum Objekt zu machen, darum geht es ihr. Die vielen Ereignisspuren des Lebens, in einen Text zusammenzuführen. "Eine Art Mit-Schrift wäre mein Schreibideal", sagte Wolf 1994. "Viele und vieles schriebe mit, das Subjektivste und das Objektivste verschränkten sich unauflösbar, ,wie im Leben'." Eine solche Poetik verlangt den ganzen Einsatz, den die Mutter von zwei Töchtern bis zur Überforderung leistete. Die Idee vom Autor als Pädagoge und Seelsorger wirkt hinein. Diese Idee ist ein gesamtdeutsches Bedürfnis, ein Erbe von Aufklärung und Romantik gleichermaßen.
Bei aller Tendenz zur Weltliteratur, steht Christa Wolf für ein genuin ostdeutsches Erzählen: Das Vermessen von Herkunft und Geschichte, Gesellschaft und Landschaft, das Umständliche, auch Bekenntnisfreudige gehört dazu. Der gern erteilte Hinweis auf einen protestantischen Gestus hilft hier nicht weiter. Christa Wolf begreift sich selbst nicht als "bürgerliche" Autorin. Sie ist nicht "Frau Thomas Mann". Vorausgesetzt, man begreift das entschieden Nichtkapitalistische ihrer Weltanschauung als eine nichtbürgerliche Haltung. Es ist dieses nichtfunktionale Lebensideal, das Wolfs Bücher auch im Umlauf hält. Christa T. und Kassandra waren nie nur DDR-Bürgerinnen. Sie sind Zeitgenossinnen.
Als Vorrednerin ihres Leipziger Lehrers, des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, sagte Christa Wolf 1990 in Berlin: "Es gab Jahre hier, in denen Bücher wie Taten wirkten, Lebens- und Arbeitsmittel jener Gruppen, die in den achtziger Jahren entstanden und die im Herbst des vorigen Jahres in einer Reihe ganz neuer Organisationsformen das Gesicht, die Gestalt einer freien, humanen, sozialen Gesellschaft ahnen ließen, die sich unter dem Panzer des alten Staatswesens als Puppe herausgebildet hatte. Dabei beteiligter Zeuge gewesen zu sein, ist eine unverlierbare Erfahrung." Christa Wolf war in dieser Hinsicht nicht Zeugin, sondern Akteurin. Was bleibt? Genau das.
Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin bis 2. Mai: "Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen". Das Archiv Christa Wolf. Mo 14-20, Di-So 11-20 Uhr.