Chinesische Autoren setzen auf umstrittene Geschichte
Frankfurt/Main/dpa. - Boomende Städte, wachsendes Selbstbewusstsein, Supermacht von Morgen - wer an China denkt, sieht die Fassade, schön hergerichtet von Millionen eifrigen Helfern, vermarktet von einer Partei, die den Takt vorgibt, nach innen und außen.
Das Innenleben dieses Milliardenvolkes aber ist den Menschen im Westen fremd, oft genug auch jenen, die glauben, das Land und seine Bewohner von unzähligen Reisen her zu kennen. Die «ehrwürdigen Fremden», wie Ausländer auf Chinesisch genannt werden, haben keinen Kontakt zum einfachen Volk, den Straßenkehrern, Bettlern, Huren oder Kloputzern.
Doch diesem «Bodensatz der Gesellschaft» gibt Liao Yiwu nun auch in Deutschland eine Stimme. Auf der Frankfurter Buchmesse wird sein Werk «Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten» vorgestellt. In zahlreichen Interviews befragt Liao behutsam seine Gesprächspartner über ihr Leben im heutigen China, und darüber, wie sie den Aufschwung verpassten. Angehörige alter Berufe wie Totenrufer, Trauermusiker oder Fengshui-Meister kommen zu Wort. Er sprach mit früheren Eliten, etwa Grundbesitzern, die unter den Kommunisten ihr Land verloren und während der Kulturrevolution gequält wurden.
Der chinesischen Führung gefällt das gar nicht. Schließlich will sie das moderne Bild Chinas nicht gefährden. Prostitution oder Homosexualität? Gibt es offiziell im «Reich der Mitte» nicht. Interviews mit selbst ernannten Bauernkaisern, die die Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei bedrohen? Unvorstellbar für die Machthaber in Peking. Grundbesitzer oder «Rechtsabweichler» zu Wort kommen lassen? Gefährdet die historische Sichtweise.
Es war also kein Wunder, dass Liaos Sammelband, für den er über zwei Jahrzehnte recherchierte, gleich nach seinem Erscheinen in China verboten wurde. Restriktionen sind Liao nur zu gut bekannt - als er nach dem Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 das epische Gedicht «Massaker» veröffentlichte, wanderte er für vier Jahre ins Gefängnis. Eine Preisverleihung vom chinesischen PEN-Zentrum wurde 2007 in letzter Minuten verhindert. Und nun darf der rebellische Autor auch nicht zur Buchmesse ausreisen.
Tabu-Thema Aids
Ebenfalls nicht dabei ist Yan Lianke, obwohl er sogar nach wie vor Mitglied der Kommunistischen Partei ist und Träger zweier wichtiger chinesischer Literaturpreise. Doch seine subversiven Werke verzeihen ihm die roten Machthaber nicht. Nicht nur, dass er in «Dem Volke dienen» ein Paar beim Liebesspiel eine Mao-Büste zerschlagen lässt, um sich in Fahrt zu bringen. In «Der Traum meines Großvaters» rührt er gar an einem noch größeren Tabu im heutigen China: Aids. Um ans große Geld zu kommen, lassen sich die Bewohner eines kleinen Dorfes in der Provinz Blut abnehmen, von der offiziellen Propaganda werden sie für ihre patriotische Tat gefeiert.
Doch Jahre später erkranken die Dorfbewohner an Aids und sterben, diesmal unbeachtet von der Öffentlichkeit. Im kommunistischen China gibt es Aids offiziell nicht, das als dekadente Krankheit des Westens abgetan wird. Alleingelassen gründen die Dörfler eine Gesellschaft der Kranken. Doch auch die wird schließlich zerstört, Gier und Missgunst greifen um sich.
Mit deutlicher Kritik reagierte Yan auf sein Ausreiseverbot - und nahm auch die Schriftsteller ins Visier. «Wir haben keine Tradition, den Herrschenden mit Literatur Kontra zu bieten», sagte er kürzlich in einem Interview. China habe ein ähnliches System wie weiland die Sowjetunion, aber kein literarisches Werk, das mit «Archipel Gulag» oder «Doktor Schiwago» zu vergleichen sei.
Andere Schreiber dürfen hingegen nach Deutschland kommen. Yu Hua ist sogar Mitglied der offiziellen chinesischen Autoren-Delegation. Dabei zählt er zu den schärfsten Kritikern von Geldgier und Korruption im kommunistischen Machtapparat. In seinem Roman «Brüder» hält er der chinesischen Gesellschaft wieder einmal gekonnt den Spiegel vor. Und auch er lässt die Geschichte nicht ruhen, wie es gut 30 Jahre nach Ende der von Mao zum Machterhalt angezettelten Kulturrevolution so viele Betroffene tun, Täter aber auch Opfer.
Yus Titelhelden - der rüpelhafte Li und der gewissenhafte Song - verlieren in der Kulturrevolution auf brutale Weise ihre Eltern. Als sich das Land öffnet, wird Li mit Müll und Lumpen sagenhaft reich, Song hingegen kommt nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes nicht mehr auf die Beine und nimmt sich schließlich das Leben. Die Zensur hat die bissige Satire ohne Probleme passieren lassen, der Roman wurde mit einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren zum Bestseller.
Kritische Dichtung
Gut verkaufen sich auch die Kriminalromane von Qiu Xiaolong mit dem Shanghaier Oberinspektor Chen als Helden. Im fünften Fall, «Blut und Rote Seide», findet sich in der Kulturrevolution sogar das Motiv für einen grausamen Serienmord. Für westliche Leser ist vor allem das Ende überraschend: Chen verzichtet auf die vollständige Aufklärung des Falles und erlaubt dem Täter, sich durch Selbstmord aus der Verantwortung zu ziehen - das galt bereits vor tausenden Jahren im alten China als ehrenhafte Lösung.
China kann auch in diesem Jahr anhand von Gedichten entdeckt werden. Legendäre Dichter wie Li Bai im 8. Jahrhundert, der noch heute zitiert wird, haben eine große Tradition begründet. Kritische Auseinandersetzung mit den Herrschenden ist auch heute noch wichtiger Bestandteil der Dichtung. «Dies alles ist nur ein normales, ein ganz normales Jahr», dichtet etwa Yang Lian in «1989» über die Ereignisse eben dieses Jahres, nach denen er sein Heimatland verließ. Das Gedicht ist Teil seiner «Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons. Gedichte und Reflexionen», in denen der Exilant Bezug auf die aktuelle politische Lage in der Volksrepublik nimmt.
Liao Yiwu
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten
Fischer Verlag, Frankfurt/Main
544 Seiten, Euro 22,95
ISBN 978-3-10-044812-5
Lian Yanke
Der Traum meines Großvaters
Ullstein Verlag, Berlin
364 Seiten, Euro 22,90
ISBN 978-3-55-008749-3
Yu Hua
Brüder
Fischer Verlag, Frankfurt/Main
768 Seiten, Euro 24,95 Euro
ISBN 978-3-10-095803-7
Qiu Xiaolong
Blut und Rote Seide. Oberinspektor Chens fünfter Fall
Paul Zsolnay Verlag, Wien
377 Seiten, Euro 19,90
ISBN 978-3-552-05461-5
Yang Lian
Aufzeichnungen eines Dämons. Gedichte und Reflexionen
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main
295 Seiten, Euro 29,80
ISBN 978-3-518-42121-5