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Literatur „Entdeckung der Langsamkeit“ - Sten Nadolny wird 80

Manchmal hilft ihm eine spinnerte Idee. Etwa, einem Polarforscher extreme Langsamkeit anzudichten. Der Schriftsteller Sten Nadolny macht daraus einen Welterfolg. Zum 80. Geburtstag verrät der Autor, warum Schreiben so furchtbar anstrengend sein kann.

Von Gerd Roth, dpa Aktualisiert: 31.07.2022, 10:13
Der Autor Sten Nadolny wird 80.
Der Autor Sten Nadolny wird 80. Christophe Gateau/dpa

Berlin - Der Roman wiegt knapp fünf Tonnen. Die in 1470 Tonplatten gesetzte Version von „Die Entdeckung der Langsamkeit“ gilt als gewichtigste Auflage des Erfolgsromans von Sten Nadolny.

Der in Berlin lebende Autor schätzt die Arbeit des Baukeramikers Andreas Benrath sehr, der in Buggingen im Schwarzwald gut zwei Jahre lang morgens vor Arbeitsbeginn Seite um Seite jeden Buchstaben in Ton überträgt. Eine dieser Platten hängt bei Nadolny auf dem Balkon, einem seiner täglichen Denk- und Arbeitsplätze. Sie steht auch dafür, wie der allein im deutschsprachigen Raum rund 1,8 Millionen Mal verkaufte und zudem in 30 Sprachen übersetzte Roman Nadolnys Leben noch immer prägt. Am Freitag (29. Juli) wird der Autor 80 Jahre alt.

Franklin interessierte ihn schon früh

Nadolnys literarisches Debüt „Netzkarte“ ist noch unveröffentlicht, als der junge Schriftsteller 1980 mit einem Kapitel aus „Die Entdeckung der Langsamkeit“ den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis gewinnt. Drei Jahre später erscheint der Roman um den britischen Polarforscher John Franklin (1786-1847). „Ich hatte ein Schweineglück mit dem Buch“, sagt Nadolny der Deutschen Presse-Agentur in Berlin rückblickend. „Ich habe ein Buch geschrieben über meinen Lieblingshelden in der Historie, John Franklin, der mich immer schon beschäftigt hat, schon als Halbwüchsiger.“

Er entdeckt ihn mit 14 im Meyers Konversationslexikon. „Ich wollte ihn interessant machen. Ich war sein Freund. Ich wollte ihn für eine Nachwelt, an die ich gar nicht glaubte, mit Bedeutung und Eigenschaften ausstatten. In der Wirklichkeit war er nicht so langsam, der war gründlich, ein genauer Rechner, der war alles Mögliche, was man unbedingt sein sollte. Das nun langsam zu nennen, war meine Idee, die sich als ein absoluter Glücksfall erwiesen hat.“

Heute spricht Nadolny von einer „spinnerten Idee“, an der er festgehalten habe „als zunächst einziger Vertrauter und Liebhaber dieser Idee“. Er nennt es auch Einsamkeit, in der Glauben zum Zuge komme. „Da liegt ein gewisses Format drin, das man haben muss. Ob das dann was wird, ob das vielleicht nicht gut wird oder sogar völlig scheitert - das steht auf einem anderen Blatt.“

Der Erfolg des Buches gab ihm Freiheiten

Von Scheitern keine Spur, der internationale Erfolg wird sichernde Grundlage für ein Schriftstellerleben. „"Die Entdeckung der Langsamkeit" hat es mir ermöglicht, durch den Erfolg mir Zeit zu lassen und zu schreiben, was ich wollte“, sagt Nadolny. „Ich musste mich ja glücklicherweise auch um keine Erwartungen kümmern, die andere an mich richteten.“

Der Weg zum Autor ist vorgeprägt. 1942 wird er in Zehdenick an der Havel geboren. Die Eltern schreiben beide. Vater Burkhard steht im Kontakt mit dem Autorenbund Gruppe 47, Mutter Isabell schreibt mit „Ein Baum wächst übers Dach“ einen Roman zum Leben am Chiemsee. Bis vor wenigen Jahren lebte Sten Nadolny auch dort noch. Auf dem Dorf müsse man leben wollen, sagt er nun in der Hauptstadt. Am meisten vermisse er die Menschen - und das Wetter am See. „In dem alten Haus fing es dann an zu knacken, wenn der Wind umschlug - die Geräusche bei Sturm waren hinreißend.“

Nach dem Abitur wird Nadolny zunächst Reserveoffizier, anschließend studiert er in München, Tübingen, Göttingen, wird in Berlin über das Thema Abrüstungsdiplomatie promoviert. Es folgen Stationen als Lehrer, Taxifahrer, Helfer im Strafvollzug. Das Filmgeschäft lockt ihn. Als einer der Aufnahmeleiter betreut er die Berliner Dreharbeiten zu „Octopussy“ mit Roger Moore als James Bond. Für „Netzkarte“ schreibt er das Drehbuch. Als der Film nicht realisiert wird, macht Nadolny daraus seinen ersten Roman.

„Die Entdeckung der Langsamkeit“ nennt Nadolny „wahrscheinlich mein bestes Buch“. Einige Jahre später folgt „Ein Gott der Frechheit“. Der Roman um den griechischen Gott Hermes, der sich in der Gegenwart und den Armen der jungen Helga aus Stendal wiederfindet, ist aktuell Lieblingsbuch des Autors. Auch, weil er „so ein bisschen aus der Spur geraten ist“.

Viel Energie steckt er in den „Ullsteinroman“. Die Erzählung um die Geschichte von Familie und Verlag ist eine Auftragsarbeit zum Verlagsjubiläum. Er habe gesagt, es werde in jedem Fall ein Roman, „also auch mit fiktiven Einfällen und Gesprächen, die so nicht unbedingt stattgefunden haben“. Nadolny schreibt zweieinhalb Jahre daran. „Es war die anstrengendste Arbeit meines Lebens. Wegen der Recherchen.“

Dazu fehlt es heute an Antrieb. „Ich habe immer seltener Lust, mich furchtbar anzustrengen. Es ist wirklich ein harter Ritt, einen Roman zu schreiben“, weiß Nadolny. In jungen Jahren stecke man das weg. Und nun: Rückenschmerzen, Zipperlein, Nackenstarre, Rheuma. „Was weiß ich, was man alles hat. Durch Schreiben jedenfalls wird es nicht besser“, sagt er, „aber es ist trotzdem nach wie vor das, wofür ich eigentlich lebe und mit dem ich lebe.“

So sieht das dann aus: „Ich schreibe sehr unregelmäßig, bin faul, undiszipliniert und kriege nur manchmal - und das immer seltener, muss ich sagen - einen Furor.“ Notizen mache er zwar immer, „aber so richtig verheiratet mit einem Projekt, das ist dann schon eine Entscheidung.“ Das gehe nicht ohne tiefe Liebe. „Und dann saugt so ein Projekt alles Kostbare und alles Edelmetall aus den anderen sogenannten Projekten raus.“

Seinen Vorlass hat er - zusammen mit dem Nachlass der Eltern - bereits vor einigen Jahren an die Mocanesia gegeben, in der das Münchner Literaturarchiv verwahrt wird. „Und jetzt lebe ich einfach weiter und es kommt ständig mehr Nachlass noch dazu“, sagt Nadolny mit der ihm eigenen Ironie. „Und den muss ich wieder ordnen. Das werden schon noch einige Umzugskartons.“