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Broadway-Musical "Hamilton" Broadway-Musical "Hamilton": Der ultimative Immigrant

Von Christian Bos 22.11.2016, 14:04
Lin-Manuel Miranda (r.), selbst Sohn von Immigranten, schuf das Erfolgs-Musical„Hamilton“, das  den Pulitzer-Preis gewann.
Lin-Manuel Miranda (r.), selbst Sohn von Immigranten, schuf das Erfolgs-Musical„Hamilton“, das  den Pulitzer-Preis gewann. PBS

Köln - Man sollte meinen, dass der gewählte Präsident der immer noch mächtigsten Nation der Erde gerade alle Hände voll zu tun hat. Doch Donald Trump nahm sich in den vergangenen Tagen ausreichend Zeit, um gleich eine Handvoll Tweets zu verfassen, in denen er gegen ein Broadway-Musical zu Felde zieht. Nutzte Angela Merkel die Bundespressekonferenz um den „König der Löwen“ zu beschimpfen, es wäre kaum weniger bizarr. Oder steckt doch mehr dahinter?

Hier sind die Fakten: Am Freitagabend besuchte der designierte Vizepräsident Mike Pence eine Vorstellung von Lin-Manuel Mirandas Musical „Hamilton“ im Richard Rodgers Theatre am Manhattaner Broadway. Das Musical erzählt die Geschichte des amerikanischen Gründervaters Alexander Hamilton. Ein nicht geringer Teil des Publikums begrüßte Pence mit lautstarken Buh-Rufen.

Das mag die Regeln der Höflichkeit verletzen, hat seinen Grund aber darin, dass sich Pence einen Namen als homophober, fremdenfeindlicher Abtreibungsgegner gemacht hat, als Gouverneur von Indiana Gesetze unterzeichnet hat, die exakt die Minderheiten unterdrücken, denen die New Yorker Theaterlandschaft einen Schutzraum gewährt. Zur Verdeutlichung: Die Titelrolle in „Hamilton“ wird derzeit von Javier Muñoz, einem schwulen, HIV-positiven New Yorker mit puertoricanischen Wurzeln, gespielt. Mike Pence hat sich als Kongressabgeordneter dafür stark gemacht, Gelder im Kampf gegen Aids an Organisationen umzuleiten, die Menschen mit homosexuellen Neigungen „umerziehen“ wollen.

Nach der Vorstellung wandte sich Ensemblemitglied Brandon Victor Dixon – er spielt Alexander Hamiltons Widersacher Aaron Burr – direkt an den prominenten Gast: „Wir, Sir, sind das multikulturelle Amerika. Wir sind alarmiert und sorgen uns, dass ihre neue Regierung uns nicht beschützen wird, ebenso wenig wie unseren Planeten, unsere Kinder und unsere Eltern.“ „Ich hoffe“, fügte Dixon hinzu und dankte Pence noch einmal für seinen Besuch, „dass die Vorstellung sie dazu inspiriert hat, die amerikanischen Werte von uns allen aufrechtzuerhalten.“ Der künftige Vizepräsident war zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Platz in Richtung Foyer verlassen, bestätigte aber in späteren Interviews, dass er die Botschaft vernommen habe – und sich keineswegs beleidigt fühle.

Trumps wenig diplomatische Reaktion

Der kommende Präsident der USA aber reagierte weit weniger diplomatisch. Trump twitterte, sein Vize sei belästigt worden. Er verlangte eine Entschuldigung vom Ensemble und fügte noch kleinlich hinzu, dass „Hamilton“ sowieso überschätzt sei.

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Mag sein, dass Trump mit seinen wiederholten Tweets nur von den 25 Millionen Dollar ablenken wollte, die er, im Zuge eines außergerichtlichen Vergleichs, an Geschädigte seiner mit zweifelhaften Geschäftspraktiken operierenden „Trump University“ zahlen musste.

Andererseits erzählt „Hamilton“ die diametral entgegengesetzte Version von jenem Amerika, das Trump wieder groß zu machen versprochen hat. Das muss dem Populisten aufgefallen sein, allein schon, weil die Broadway-Produktion rund 100 Millionen Dollar pro Jahr einnimmt und Neuinszenierungen in Chicago, Los Angeles, am Londoner West-End (und wer weiß, wo noch) „Hamilton“ zum Milliardenunternehmen anwachsen lassen werden.

Vor allem jedoch weil Lin-Manuel Miranda, dessen Eltern aus Puerto Rico in die USA einwanderten, in seinem Musical Alexander Hamilton als den ultimativen Immigranten porträtiert. Hamilton war als verarmter Waise auf der Karibikinsel Nevis aufgewachsen und hatte es mit Vorwitz und eiserner Disziplin zum ersten Finanzminister der USA gebracht, und hat als solcher die Weichen zur künftigen Wirtschaftsmacht Amerikas gestellt. Miranda erspart in seiner Bearbeitung dem Publikum keine finanztechnischen Details – „Hamilton“ setzt neue Maßstäbe in der Frage, wie komplex die Inhalte sein können, die ein Musical zu transportieren vermag – aber er hat die weißen Gründerväter, all die Washingtons und Jeffersons, durchweg mit schwarzen und hispanischen Darstellern besetzt. Und er hat die althergebrachten Musicalmelodien durch energiegeladene HipHop-Tracks ersetzt. Einerseits könnte „Hamilton“ nicht patriotischer sein, viele Schulen wenden es bereits im Geschichtsunterricht an, andererseits zeichnet Miranda ein Bild der USA, das Trump-Wähler auf die Palme bringen muss: multi-ethnisch, urban, in ständiger Umwälzung begriffen.

Beinahe in jeder Vorstellung erntet die Zeile „Immigrants, we get the job done“ („Einwanderer, wir erledigen den Job“) Ovationen, am Wochenende fühlte sich ein Besucher in Chicago davon provoziert, randalierte, rief aus „Wir haben gewonnen, Trump ist Präsident“, gefolgt von einer Kaskade an Schimpfwörtern, und wurde schließlich von Sicherheitskräften aus dem Theater begleitet.

Trump forderte derweil, dass ein Theater ein sicherer Ort sein müsse, bezog sich allerdings immer noch auf den Vorfall um Mike Pence. Immerhin löste er damit eine ganze Reihe an Denkstücken aus, die darüber sinnierten, in wie weit Performer von der Showbühne herab politische Predigten halten sollten. Auch bei den American Music Awards in der Nacht zum Montag hatten zahlreiche Stars die Wahlen kommentiert, am deutlichsten noch die Altpunker Green Day, die den Refrain „Kein Trump, kein KKK, keine faschistische USA“ anstimmten.

Das Theater sollte gerade kein sicherer Ort sein, argumentierte der Kritiker der „New York Times“, sondern ein Ort der Verunsicherung. Dass „Hamilton“ viel mehr als leichtes Entertainment, mehr als nur eine weitere Show sei, darüber sind sich nicht nur die Kritiker einig. Barack Obama hatte sich ebenso als „Hamilton“-Fan geoutet wie George W. Bushs graue Eminenz, Dick Cheney. So viel Konsens kann fast schon erdrückend wirken. Insofern könnte man dem dünnhäutigen Donald Trump beinahe dankbar sein: er hat „Hamilton“ gerade zum schwersten Gegengeschütz im Kampf der Kulturen gemacht, der die USA derzeit zerreißt.