Belletristik Belletristik: Keimfrei leben
Hamburg/dpa. - Bei jeder neuenDiskussion über die Gesundheit der Deutschen tauchen die Ratschlägeauf: mehr Bewegung, weniger fettes Essen, zur Vorsorgeuntersuchunggehen. Wäre es also nicht besser, ein jeder müsste per GesetzGefahren für Leib und Seele vorbeugen? In Juli Zehs neuem Roman«Corpus Delicti» wird die Vision zur grauenhaften Realität.
Die Suche nach der perfekten Gesundheit kann sehr weit führen, umdas vorwegzunehmen. Bis zu einer Erziehungsdiktatur in Deutschland,in der schon das Rauchen einer Zigarette einen Strafprozess zur Folgehat. Hauptfigur Mia Holl (34) hat geraucht. Sie kommt nicht los vonihrem Bruder Moritz, dem das System bereits den Prozess gemacht hat,da er nicht mitspielen wollte. Er opponierte mit Rauchen und mitAngeln am unhygienischen Fluss, wo es womöglich Keime undKrankheitserreger gibt.
Eigentlich ist die erfolgreiche Biologin zunächst gar nicht gegendas System, das auf der «Methode» beruht, einer Art Grundgesetz. Miaschätzt sich als streng rational ein. Doch es bleibt nicht bei derZigarette. Nach dem Tod ihres Bruders funktioniert Mia nicht mehrregelgemäß. Jeden Aspekt der körperlichen Verfassung seiner Bürgerwill dieser Staat überprüfen. Der Hometrainer muss genügend Kilometeraufweisen, regelmäßige Gesundheitstests sind zu absolvieren. Und Miahält sich nicht daran.
Fast zwangsläufig kommt bei dieser Kontroll-Gesellschaft derGedanke an George Orwells «1984» auf (Orwell steht amüsanterweisesogar in Mia Holls Bücherregal). In «Corpus Delicti» ist es nicht dieDauerkontrolle per Kamera, die Überwachung kommt perfider daher -wenn Mia Holl ihr «Meldepflichten nicht erfüllt», folgen Sanktionendirekt.
Zehs Geschichte packt den Leser und regt zum Nachdenken an, wieweit «der Staat» in die Lebenswelt seiner Bürger eingreifen darf.Diese Gesellschaft ist leider nicht unvorstellbar. Der«Methodenschutz» erinnert an die Staatssicherheit. Er wird sofortinformiert, wenn jemand wie Mia aus der Reihe tanzt. Es ist aberkeine Parteiideologie oder religiöse Heilsbotschaft, auf der dieseGesellschaft basiert. Ein gesunder Körper ist hier höchstes und fasteinziges Ziel.
«Der methodenrechtliche Anspruch auf Gesundheit ist eine dergrößten Errungenschaften der Gesellschaft», sagt Heinrich Kramer. Derangebliche Journalist und Übervater der «Methode» beschäftigt sichmit den Menschen, die gegen die Grundsätze verstoßen. In Mia entdeckter eine potenzielle Gefahr, denn sie hinterfragt letztlich die totaleKontrolle des Systems. Kramer hatte schon Moritz im Blick, der eineFrau vergewaltigt und getötet haben soll.
Mia glaubt das nicht. Und auch ihr Anwalt opponiert, er will dieUnmenschlichkeit dieses Staates aufzeigen, der ihm nicht erlaubt mitder Frau zu leben, die er liebt. Beide stellen die «Methode» auf eineharte Probe, haben gegen ein Unrechtssystem aber keine wirklicheChance. Die wie die Hauptperson 34 Jahre alte Zeh legt auch in ihremvierten Roman Wert auf Präzision. Den Text ordnet die gelernteJuristin um die realitätsnahen Verhandlungen vor Gericht an undzeigt, dass ein vermeintliches Rechtssystem eben nicht gerecht seinmuss.
Kleine Wermutstropfen sind die etwas unkreative Benennung derTerroristen, die gegen die totale Kontrolle ankämpfen, «RAK» (Rechtauf Krankheit) sowie die Außenwelt. Sie bleibt an einigen Stellen zueindimensional - die Nähe zu Mia Holl ist schön, aber wo sind ihreEltern, Freunde, Arbeitskollegen? Dennoch - Zeh zeigt die Knackpunkteeiner Welt auf, in der Gesundheit nicht mehr individuell verstandenwird, sondern sich an dem orientieren soll, was als «normal»anerkannt wird. Das fängt schon im Kleinen, etwa beim Trinken, an: ImRoman wird fast nur heißes Wasser getrunken. Keimfrei eben. Zum Lesender Horrorvision empfiehlt sich dementsprechend Rotwein, am besten imGlas vom Vorabend.
Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess Schöffling & Co., Frankfurt/Main 264 Seiten, EUR 19,90 ISBN: 978-3-89561-434-7.