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Belletristik Belletristik: Friedman schrieb Roman über sein eigenes Leben

30.05.2005, 06:21
Michel Friedman. (Foto: dpa)
Michel Friedman. (Foto: dpa) dpa

Berlin/dpa. - Doch kaum verbrämt erzählt Friedman auch seine eigene Geschichte. Julien, der wie der Autor in Paris geborenwird, berichtet seinem Sohn vom Schicksal seiner Vorfahren. Es sei eine an das eigene Erleben angelehnte Fiktion, erklärte Friedman jüngst. Das Buch habe er vor der Geburt seines Sohnes Samuel geschrieben, dem gemeinsamen Kind mit der Moderatorin Bärbel Schäfer.

Es ist das «Totengebet» (Kaddisch) der Davongekommenen undÜberlebenden, das ständig um die Frage kreist, warum ausgerechnet sieden Gaskammern und Mordkommandos der Nazis entkamen. Juliens ElternSarah und Ariel haben als einzige ihrer Familien das Lager überlebt.Sie sind von Schuld beschwert, auch ihr Sohn kann die Last nichtabwerfen. Nach ersten Jahren in Paris zieht die Familie nachFrankfurt, in das Land, aus dem auch die Mörder ihrer Angehörigenstammen. Wie Friedmans Vater, betreibt Ariel in Frankfurt einPelzgeschäft.

Der erlebte Albtraum im Ghetto beherrscht noch immer den Alltag.«Sie befahlen meinem Vater, sich in die eine Ecke des Zimmers zustellen, und den Kindern, in eine andere. Sie sagten meinem Vater,sie hätten den Befehl, jedes zweite Kind zu erschießen. Er solleaussuchen, welche Kinder erschossen würden. Mein Vater begann zuweinen, sie lehnten sein Angebot ab, ihn statt der Kinder zuerschießen.» Sie erschiessen das erste, das zweite Kind, sieerschiessen alle Kinder. «Sie gingen so, wie sie gekommen waren.»

Julien und seine Eltern versuchen trotzdem ein Leben der«Normalität» in der deutschen Gesellschaft. «Das Leben und Sterbenvon meiner Familie lässt mich nicht los, ob ich will oder nicht, meinKind», schreibt Friedman am Anfang. Für Ariel und Sarah geht es immerum die Frage, wie man als Jude, als Überlebender von Auschwitz weiterleben konnte.

Doch Friedman geht es in seinem Roman-Debüt auch um dieDarstellung seiner selbst. Die Parallelen zwischen demFamilienschicksal Juliens und dem realen Michel Friedman sindunübersehbar. «Ich war sechs Jahre alt, als ich meinen Vater zumersten Mal weinen sah», erzählt Julien. «Damals bin ich erwachsengeworden. Dachte ich. Es sollte vierzig Jahre dauern, bis ich eswirklich wurde». So alt etwa wie Friedman im Jahr 2003, als er alsVizepräsident des Zentralrates der Juden wegen einer Kokainaffäre vonallen seinen Ämtern zurücktrat.

Friedmans literarisches Selbstgespräch bleibt aber immer wiederauch an der Oberfläche von Statements hängen. «Ich bestehe auf dieVerantwortung eines jeden einzelnen für sein Handeln, seineLeistungen und seine Fehler», sagt Julien seinem kleinen Kind vor demEinschlafen. «Es ist der Blick der Liebe, der einen Menschen lebendigwerden lässt» oder «Der Hassende ist vergifteter als der Gehasste» -durch Juliens Sätze schimmert auch immer wieder der Talk-ModeratorFriedman durch.

Michel Friedman: «Kaddisch vor Morgengrauen», Aufbau-Verlag Berlin; 160 Seiten; 17,90 Euro; ISBN: 3-351-03046-0