Bazon Brock Bazon Brock: Durch die Weltgeschichte spazieren
Leipzig/MZ. - Programmgemäß? Die ausgelegten Faltblätter seien leider veraltet, sagt Brocks Assistent, die wurden vor einem Jahr gedruckt. Das sei ihr jetzt aber so was von schnurz, raunzt da die kleine Dame in Schwarz. Graue Kurzhaarfrisur, die Handtasche dicht unter der Achsel. "Der Bazon" selbst habe ihr den Marschtermin gegeben.
"Der Bazon", das hört man hier oft. Gesprochen: Batson. Wer "der" sagt, der ist hier offenbar ganz nah dran am Chef. Was aber auch nicht hilft. Denn der Bazon sage viel, sagt sein Assistent, ein belastbarer Junge von Ende 20, der auch nicht gerade auf den Mund gefallen ist. Schon zählt er auf, wo sein Chef beim gestrigen "Lustmarsch" inhaltlich so daneben gelegen habe. Ein Gemälde falsch datiert. Einen Autorennamen verwechselt. Na, so ein Früchtchen, denkt man. Spricht man so über seinen abwesenden Herren? Es ist Viertel nach drei.
Schlumpf im Laufgitter
Rund zwanzig mit Klappstühlchen bewehrte Personen stehen im Kellergeschoss des Leipziger Kunstmuseums herum. Kulturbetriebspublikum, das hält einiges aus. Immerhin ein erster Blick auf das "Theoriegelände" gelingt. Ein Marterpfahl ist zu sehen, kunterbunt behängt. Eine Pickelhaube dran genagelt. Ein "Zarathustra"-Büchlein. Ein Eisernes Kreuz. Weiter hinten sitzt ein Plüschschlumpf in einem Laufgitter. In goldenen Lettern ist an der Saaldecke zu lesen: "Fußball steht für die Schönheit der Arbeiterklasse". Aber wo steht Brock?
Vielleicht könne er seine Medikamente nicht finden, sagt der Assistent, dessen Bewegungen immer schwimmender werden. Oder das Leipziger Hotelzimmer? Der Meister ist im Juni 70 geworden. Nehmen Sie doch erstmal einen Glückskeks, sagt der Assistent, und serviert vom Tablett. Das Papier ist zu tief hineingebacken, dafür steht ein Brock-Spruch drauf.
Bazon Brock, emeritierter Ästhetik-Professor aus Wuppertal und selbstetikettierter "Wundergreis", ist der Star der nachkriegsdeutschen Kunstvermittlerbranche. Ein Kunstwerkeerklärer, der selbst ein Kunstwerk ist. Der plaudern kann wie gedruckt. Buchstäblich blitzgescheit. Erfinder der Dokumenta-"Besucherschulen". "Bazon" heißt im Griechischen "der Geschwätzige". Seit März ist der "Künstler ohne Werk" auf Deutschlandtour, um seine begehbaren Denklandschaften zu präsentieren. Leipzig ist die neunte von elf Stadtstationen. Aber jetzt muss der Assistent selbst ran. Bläst in eine kleine Trompete, vier Stöße. So werden auf dem Bayreuther Festspielhügel die Wagner-Opern angezeigt. Klappstühle greifen, laufen, sitzen, lauschen. Erstens, die politische Kollektiv-Entfesselung: das späte 19. Jahrhundert. Zweitens, der Fundamentalismus: das mörderische Eins-zu-eins-Übertragen gedanklicher Inhalte auf die tatsächliche Wirklichkeit. Personen und Werke werden aufgerufen: Disraeli, Schliemann, Wagner, Nietzsche und Marx.
So geht es hin über den Diskurs-Parcours. "Die deutsche Ideologie" wird erläutert. Mit Hilfe einer Stube, die nach Vorlage der Thomas-Mann-Erzählung "Beim Propheten" (1904) gezimmert wurde. Neugotisches Mobiliar. Heiligenfiguren. Ein George-Foto an der Wand. Intellektuelle Physiognomien sind am Beispiel prominenter deutscher Beistellhunde darstellbar: der Pudel (Schopenhauer), die Dogge (Bismarck), der Dackel (Wilhelm II.). Und der Schäferhund? Das wissen sie selbst, sagt der Assistent.
Vom Eingang her ein kleines Wortgemenge. Und siehe: Der Chef ist da. Breitschultrig, weißhaarig, das Jeanshemd bis obenhin geschlossen. Vom Einkaufen kommt er. Bester Dinge. Ein Gute-Laune-Hüne in weißen Sportschuhen. Wollen wir mal anfangen, klatscht Brock in die Hände, oder erstmal einen Kaffee trinken? Nöö, mault die Runde. Und wer will einen Schnaps? Schon hellen sich einige Gesichter auf. Anis-Schnaps, strahlt Brock. Weil das irgendetwas mit dem Abendmahl zu tun habe. Brock greift zur Flasche und gießt ein Wasserglas randvoll. Zum Durchreichen.
Brock ist schon ganz bei der Sache. Der Geburt des Fundamentalismus aus dem Geist eines rücksichtslos entfesselten Künstler- und Denkertums. Bei der vorsätzlich aufgehobenen Differenz zwischen Kopf- und Echtwelt. Wagner, der von den Nazis nicht missbraucht worden sei: "Bei dem war alles schon vorher da". Die Fundamentalismen hierzulande: Globalisierung, Ökologie, Ökonomie. "Der Markt regelt alles? So ein Blödsinn!" Der könne sich seine rechtlichen Bedingungen nicht selber schaffen. Der Schlankheits-Wahn? "Ein abstraktes Konzept wird umgesetzt und reihenweise kollabieren die Leute!"
Brock ist großartig. Bei aller Routine kein Routinier. Von wegen "Wanderprediger". Ein Wanderlehrer, wenn schon. Der Aufklärer als Anreger. Jahrtausend-Bildung im Maggi-Würfel-Format wird geboten. Brock schwadroniert ja nicht. Er belegt, zitiert, führt dabei querfeldein durch sein Privatmuseum. "Vorsicht, Sie fallen in den Neo Rauch hinein!" Werke, sagt er, seien für ihn abgelegte Werkzeuge. Und Musealisierung ist seine Strategie, um die Welt zu retten. Die mörderischen Konzepte unter Glas legen, um sich dann darüber zu beugen. Distanz, Spiel, Reflexivität. Der Ästhet als letzter Zivilist.
Was er morgen erzählen werde, fragt es aus der Klappstuhl-Gruppe. Woher soll Brock das wissen? "Lustmarsch" heißt, sich dem Augenblick zu überlassen. Außerdem ist es schon halb acht. Brock will jetzt essen gehen. Über den Gegenspieler des Propheten heißt es in Manns Erzählung: Er hatte "ein gewisses Verhältnis zum Leben".