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Kulturgeschichte 75 Jahre absurdes Theater: Die Frisur der „kahlen Sängerin“

Schreiend komisch und subversiv: „Die kahle Sängerin“ von Eugène Ionesco. In einem kleinen Kellertheater in Paris wurde vor einem Dreivierteljahrhundert die Theaterwelt dramatisch verändert.

Von Gregor Tholl, dpa Aktualisiert: 26.05.2025, 16:39
Veränderte das Theater: der Schriftsteller und Dramatiker Eugène Ionesco. Er wurde am 26. November 1909 im rumänischen Slatina geboren und starb am 28. März 1994 in Paris. (Archivbild von 1984)
Veränderte das Theater: der Schriftsteller und Dramatiker Eugène Ionesco. Er wurde am 26. November 1909 im rumänischen Slatina geboren und starb am 28. März 1994 in Paris. (Archivbild von 1984) Rolf Haid/dpa

Paris - Von wegen „Warten auf Godot“: Der Literaturnobelpreisträger Samuel Beckett (1906-1989) aus Irland gilt zwar oft als wichtigster Dramatiker des absurden Theaters. Doch rund drei Jahre vor seiner „Godot“-Uraufführung hatte ein „Anti-Stück“ des französisch-rumänischen Autors Eugène Ionesco (1909-1994) Premiere in Paris. Vor 75 Jahren kam „Die kahle Sängerin“ auf die Bühne des kleinen Théâtre des Noctambules im Quartier Latin. 

Das Stück ist das eigentliche Gründungsdokument des absurden Theaters. Es ignoriert viele bis dahin geltende Dramentheorien. 

Ein Dreivierteljahrhundert nach der Uraufführung - in einer Zeit, die viele ebenfalls als Epochenumbruch empfinden - gibt es Anlass genug, einige Fragen zu dem Bühnenwerk und dem Theater des Absurden zu beantworten.

Was passiert in dem Stück?

Die Handlung (wenn man das überhaupt so nennen kann) spielt zu Hause bei Mr. und Mrs. Smith in London. Sie langweilen sich gemeinsam nach dem Abendessen, reden unter anderem über eine Familie, deren Mitglieder sämtlich „Bobby Watson“ heißen. 

Plötzlich kommt das befreundete Ehepaar Martin zu Besuch, das erst im Verlauf eines umständlichen Dialogs erkennt, dass es ja im selben Bett schläft, verheiratet ist und ein Kind hat. Ein Feuerwehrhauptmann auf der Suche nach Bränden erscheint und erzählt sinnlose Anekdoten. Als Teil des Geschehens spielt auch eine Wanduhr verrückt.

Wie endet das Stück?

„Die elf Szenen enden mit einem Streit, der aus Binsenweisheiten, Alliterationen und Stabreimen zusammengesetzt ist und in heraus geschrienen Vokalen und Konsonanten sowie dem chorisch skandierten Satz "Es ist nicht dort, es ist da!" gipfelt“, schreibt „Reclams neuer Schauspielführer“.

Was hat es mit der „kahlen Sängerin“ aus dem Titel auf sich?

Eine glatzköpfige Sängerin kommt als Figur auf der Bühne nicht vor. Vielmehr gehört die Frage „Und was macht eigentlich die kahle Sängerin?“ zu den zusammenhanglosen Dialogen des Stücks. Die Antwort, die der Feuerwehrhauptmann erhält, lautet: „Sie trägt immer noch die gleiche Frisur.“

Wusste Ionesco, was er da tat?

Kurz gesagt: nein. Nicht sofort. Autor Ionesco war Ende dreißig, als er 1948 „Die kahle Sängerin“ schrieb. Er bezeichnete sie als „Tragödie der Sprache“, beabsichtigte gar nicht, das Publikum zum Lachen zu bringen. Er verfasste sein erstes Drama eher aus dem Impuls heraus, das damals übliche französische Konversationsstück zu kritisieren. 

Dafür nahm er unter anderem Sätze aus einem Lehrbuch für Englisch (er lernte damals die Sprache). Er kombinierte sie mit Fetzen aus dem eigenen Sprachgebrauch und war selbst von der „Wortleichen“-Anhäufung irgendwie deprimiert. Monatelang wollte das Stück niemand aufführen. Erst im Mai 1950 inszenierte es der Regisseur Nicolas Bataille.

Was löste „Die kahle Sängerin“ aus?

Von den etwa 50 Plätzen im Pariser Uraufführungstheater waren anfangs oft nur wenige besetzt. Die Aufführung wurde jedoch ein Geheimtipp im Nachkriegs-Paris, das damals der intellektuelle Hotspot Europas war. So etwas scheinbar Sinnfreies hatte man seit Dada nicht mehr erlebt. 

Samuel Beckett, der ebenfalls als Exilant in Paris lebte, ließ sich wohl von Ionescos Stück inspirieren und schrieb später „Warten auf Godot“. Ab Mitte der 50er wurde Ionesco zu einem Literatur-Star. Bis ins hohe Alter blieb er produktiv, schrieb neben Dramen („Die Stühle“, „Die Nashörner“) auch Essays und Erzählungen.

Was will das Theater des Absurden eigentlich ausdrücken?

Die Figuren in „Die kahle Sängerin“ reden sinnloses Zeug und wiederholen sich. Dialoge bestehen aus Floskeln, Beziehungen aus stumpfen Streitereien. Gezeigt wird die Absurdität von Kommunikation - humorvoll skurril. 

Als künstlerisches Mittel Unsinn vorzuführen, war eine Reaktion auf die Gräuel der Nazi-Zeit und des Zweiten Weltkriegs. Nachdem totalitäre Ideologien tödlichen Sinn verkündet hatten, erschien es als Gegenmaßnahme sehr sinnvoll, die Sinnlosigkeit als einzig sinnvollen Daseinszustand zu behaupten. 

Wo läuft „Die kahle Sängerin“ heutzutage?

Seit 1957 wird „La Cantatrice chauve“ (so der Originaltitel) im kleinen Pariser Théâtre de la Huchette gespielt (es befindet sich im Quartier Latin - wie damals das Uraufführungstheater, das es heute nicht mehr gibt). Aufführungen sind derzeit immer dienstags bis samstags um 19 Uhr (Dauer: eine Stunde). 

Auf Spielplänen im deutschen Sprachraum gehört das Ionesco-Stück nicht zu den Top-Dramen in der Werkstatistik. Es wurde jedoch in letzter Zeit etwa von Johan Simons am Schauspielhaus Bochum oder auch am Schauspielhaus Graz (übernommen vom Deutschen Theater Berlin) von Anita Vulesica inszeniert. Vor ein paar Tagen hatte außerdem eine Inszenierung von Joachim Gottfried Goller an den Wuppertaler Bühnen Premiere.