VNG-Manager Klaus-Ewald Holst VNG-Manager Klaus-Ewald Holst: Eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte

Halle (Saale)/MZ - Ein Mann, hochgewachsen wie ein Baum. Wenn Klaus-Ewald Holst den Raum betritt, ist er präsent. Das erste Mal persönlich habe ich ihn im August 2007 kennengelernt. Die Verbundnetz Gas AG - kurz VNG - lud eine Gruppe von Journalisten ein, vor der Küste Norwegens eine Öl- und Gasplattform zu besichtigen. Das Leipziger Unternehmen startete damals selbst mit der Gassuche im hohen Norden.
Mit einer kleinen Maschine flogen wir von Leipzig/Halle in die Küstenstadt Stavanger. Im Landeanflug blickte ich auf felsige Berge, grüne Täler und blau glänzende Fjorde. Noch auf dem Rollfeld sagte ich zu Holst: „Ist es nicht faszinierend, innerhalb weniger Stunden in einer anderen Welt zu sein?“ Er antwortete in etwa: „Ja, es ist toll, dass wir so frei reisen können.“
Ich wusste, dass Holst einer der wenigen Ostdeutschen war, die ein großes Unternehmen führen. Doch Flugzeugreisen gehörten so selbstverständlich zu seinem Alltag wie für andere Taxi- oder Busfahren. Freute er sich wirklich noch über freies Reisen?
Abends im Restaurant sicherte ich mir einen Platz an seinem Tisch, um mehr zu erfahren. Der Unternehmenschef präsentierte sich als glänzender Unterhalter. Natürlich „verkaufte“ er die Story der kleinen VNG, die nun in Norwegen wie die großen Energiekonzerne selbst Erdgas fördern will. Doch ließ er immer wieder auch Anekdoten aus seinem privaten Leben einfließen. So habe er es seinem Großvater zu verdanken, dass er nun in dem Hafenrestaurant in Stavanger sitze.
VNG ist einziges ostdeutsches Unternehmen unter den Top-100-Konzernen
Eigentlich, erzählte Holst, wollte er Jurist werden. Doch sein Großvater habe ihm abgeraten und gesagt: „Jung, das geht nicht. Es gibt keinen Sinn, in einem Unrechtsstaat Jura zu studieren, mach es nicht. Studiere etwas, dass nicht eine Sache der Auslegung der herrschenden Ideologie ist. Die Gesetze der Schwerkraft können Ulbricht und seine Genossen nicht verdrehen.“
*Diese Geschichte bildet auch den Anfang des Buches „Bewegte Zeit“, das Klaus-Ewald Holst nun vorgelegt. Von 1990 bis 2010 führte der Bergbau-Ingenieur die VNG. Es ist das einzige ostdeutsche Unternehmen, das zu den hundert umsatzstärksten deutschen Konzernen gehört.
Die Verbundnetz-Gas-Gruppe ist mit einem Umsatz von 9,9 Milliarden Euro das umsatzstärkste Unternehmen, das seinen Hauptsitz in Ostdeutschland hat. Das Unternehmen kauft Gas in Russland, Norwegen und an Handelsmärkten ein und verkauft es vor allem an Stadtwerke, Industriebetriebe und Kraftwerksbetreiber. Zuletzt wurde ein Unternehmen hinzugekauft, um auch private Haushalte direkt zu bedienen. Im Jahr 2012 verdiente die Gruppe 103 Millionen Euro. Der Konzern ist einer der größten Steuerzahler in Leipzig.
Daran hat Holst einen großen Anteil. Dennoch ist er einer breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Das Buch ist eine Autobiografie und die Schilderung einer Unternehmensentwicklung. Vor allem ist es aber eine Wendegeschichte - wie es sie in dieser Form bisher kaum gibt.
Im Mai 1943 geboren, wächst er mit Mutter, zwei Brüdern und Großeltern im mecklenburgischen Neustrelitz auf. Seinen Vater lernt er nie kennen, er fiel am 1. Oktober 1942 vor Leningrad. Seine Kindheit verbringt er - wie fast alle damals - in einfachen Verhältnissen.
Er schreibt: „Die Familie beschloss, auf ein Radio zu sparen. Jeder entbehrliche Pfennig wurde in eine Dose getan, jedes Wochenende wurde ausgeschüttet und gezählt. Meine Mutter arbeitete täglich acht Stunden im Dreischichtdienst, verrichtete danach viele Stunden Hausdienst und bekam nur wenige Stunden Schlaf. (...) Wir brauchten drei Jahre, dann war es soweit, für 250 Mark kam ein Radio ins Haus.“
Sein Lebensweg verläuft bis zur Wende wie der vieler in der DDR: Erweiterte Oberschule, Studium an der sächsischen Bergakademie Freiberg, Ingenieur beim VEB Verbundnetz Gas in Leipzig - zuletzt ist er dort Hauptabteilungsleiter für Instandhaltung gewesen. Holst schildert, wie er sich mit dem DDR-System arrangiert und nach kleinen Freiheiten wie dem Besuch eines Kabaretts lechzt.
Holst wird politisch
An einen Systemwechsel denkt er nie. „Fühlten wir damals, im September 1989, eine große Zeit herannahmen? Bestimmt nicht.“ Dass die DDR wirtschaftlich am Ende ist, weiß Holst, der, weil es eben kaum anders geht, in einer Blockpartei ist. Beim samstäglichen Autowaschen erfährt er von einem Nachbarn, einem Gewandhaus-Musiker, erstmals von der Oppositionsbewegung „Neues Forum“. Von den Leipziger Montagsdemonstrationen mitgerissen, wird aus dem unpolitischen Holst jemand, der nicht mehr länger zaudern und zögern will. Im Dezember 1989 sitzt er am Runden Tisch in Leipzig und kandidierte für das Amt des Leipziger Oberbürgermeisters. Von den Oberen der Partei aus Stadt, Kreis und Bezirk wird er daraufhin heranzitiert und darauf hingewiesen, dass er kein Verwaltungsfachmann sei. Holst antwortet trocken: „Ja, richtig, ich bin kein gelernter Verwaltungsfachmann. Aber wenn das, was ich um mich herum in Leipzig sehe, das Ergebnis gelernter Verwaltungsarbeit ist, möchte ich auch nie einer werden.“ Die Wahl wird dann aber verschoben und Holst geht nicht in die Politik, sondern verschreibt sich einer anderen Aufgabe: Die Rettung der VNG.
Das Unternehmen ist im Gaskombinat eingebunden. Mit seinen Leitungsnetzen in der ganzen DDR, die Stadtwerke und Industriebetriebe versorgen, gilt es als Perle. Und diese weckt Begehrlichkeiten: bei der Kombinatsführung und westdeutschen Konzernen. Die Beschäftigten wollen die VNG als eigenständiges Unternehmen etablieren, das scheint kaum durchsetzbar. Es ist aber auch die Zeit des politischen und wirtschaftlichen Vakuums. Die alte Macht tritt ab, die neue Macht darf noch nicht. Während Autonome im Süden Leipzigs leere Häuser besetzen, übernehmen Holst und seine Kollegen quasi im Handstreich die VNG. Um die Macht der Kombinatsführung zu brechen, schreibt Holst, lässt er einen Betriebsrat gründen, von dessen Funktionen er eigentlich keine Ahnung hat.
Auf einer Betriebsversammlung steht Holst dann auf und erklärt - unter stürmischem Beifall seiner Kollegen - dem Kombinatschef: „Die VNG wird selbstständig. (...) Die Personen, die uns dabei führen, bestimmen wir selbst und alles sonst Notwendige auch.“ Mit einem blauen Lada reisen ein Fahrer, der Betriebsdirektor und Holst im März 1990 eigenmächtig zum größten westdeutschen Gasimporteur, der Ruhrgas, und stellen ihre Pläne vor. Die Essener Vorstände führen zeitgleich auch Gespräche mit der Kombinatsführung. Doch diese agierte zögerlich. Anders Holst. Auf seine Initiative wandelte sich der VEB in eine Aktiengesellschaft um und machte so den Weg frei für den Einstieg von Investoren. Im August 1990 gibt Ruhrgas bekannt, sich mit 35 Prozent an der VNG zu beteiligen - die Westdeutschen sichern die Eigenständigkeit der Leipziger.
Umstellung von Stadt- auf Erdgas
Holst, inzwischen Vize-Chef, schreibt über die Bekanntgabe in Berlin: „Der große Raum war voller Kameras und Leuten mit gezückten Notizblöcken, vorn standen einige Tische mit Namensschildern: de Maiziere, Krause, Gohlke (Chef der Treuhand), Liesen, Späth (beide Ruhrgas). In meiner Naivität hielt ich Ausschau nach Holst/VNG. Ich fand kein Schild mit meinem Namen.“ Holst nimmt sich einen Stuhl und setzt sich dazu. So viel Chuzpe überzeugt. Am 5. Oktober 1990 wird Holst vom Aufsichtsrat zum ersten Vorstandsvorsitzenden der VNG gewählt - er bleibt es bis 2010. Eingefädelt wird ebenfalls, dass sich zwölf ostdeutsche Stadtwerke an der VNG beteiligten, die bis heute die Unabhängigkeit des Unternehmens sichern. Nach Ansicht von Buchautor Gunnar Hinck führte Holst öffentlich jedoch ein „Schattenleben“. „Es ist die ungeheure Kraftanstrengung, die ihm das Unternehmen in den zurückliegenden Jahren abverlangt hat. Seine Energie ist nach innen gerichtet und die Außenwelt dabei nachrangig.“
Holst und seine Mitarbeiter stellen die neuen Länder von Stadtgas auf Erdgas um. Sie führen schwierige Verhandlungen mit Russland über künftige Gasmengen - und zahlen über Jahre einen höheren Gaspreis als westdeutsche Konkurrenten. Und sie überzeugen die Norweger, auch an die VNG Erdgas zu liefern, was Anfang der 90er Jahre viel Geschick verlangte. Um den norwegischen Öl- und Gasminister zu gewinnen, singt Holst ihm eine Zeile aus einem Kinderlied vor: „,Vi rövar i ost o vi rövar i väst’, was bedeutet: ,Wir räubern im Osten und wir räubern im Westen.’ Er begriff sofort, alle lachten und verstanden die Strategie der VNG, als kleines Unternehmen die anderen, meist größeren in den Wettbewerb zu bringen.“ Diese Liedzeile wirkte mehr als weitschweifige Reden.
Feier zum 50-jähriges Bestehen
Klaus-Ewald Holst:
Bewegte Zeit - Ein Leben voller Energie
Mitteldeutscher Verlag
223 Seiten
24,95 Euro
Holst formt in seiner langjährigen Amtszeit ein Unternehmen, das mit hohen Investitionen das ostdeutsche Gasnetz modernisiert, im Ausland Töchter zum Gasvertrieb betreibt und nun auch selbst Erdgas in Norwegen fördert. Im September 2009 feiert VNG ihr 50-jähriges Bestehen im Gewandhaus. Kanzlerin Angela Merkel und der russische Gasprom-Chef Alexei Miller kommen. Für Miller ist im Vorfeld keine Rede geplant, doch Holst fordert ihn auf, ein paar Worte zu sagen. „Er ließ sich nicht lange bitten, kletterte auf die Bühne und legte aus dem Stegreif los. (...) Der Manager eines Weltkonzerns aus dem Land, das manche einst als Reich der Finsternis ansahen, sprach frei von der Leber weg, ungeplant und unzensiert, locker, witzig und schlagfertig.“ Holst und VNG sind angekommen, in die Mitte der europäischen Energiewirtschaft. Wenn es eine Kritik an dem Buch „Bewegte Zeit“ gibt, dann die, dass Holst zu früh aufhört mit dem Erzählen. Holst schreibt nichts über seine Pläne, die VNG mit dem Oldenburger Energieversorger EWE zu vermählen, um so einen neuen deutschen Energiekonzern mit Sitz in Potsdam zu schmieden. Und Holst schreibt nichts von den tiefen Grabenkämpfen, die sich die Anteilseigner des Unternehmens seit Jahren liefern.
2009 verkauft die Stadt Halle ihre Anteile an der VNG. Das Gleichgewicht unter den Aktionären droht durch einen Zukauf von EWE zu kippen. Damit steht auch die Unabhängigkeit der VNG auf dem Spiel. Alle Beteiligten, auch Holst, spielen hinter den Kulissen hart über die Bande. Darüber und über die Hintergründe würde man gerne mehr erfahren. Dass der ehemalige Unternehmenschef das ausspart, liegt wahrscheinlich daran, dass diese Ereignisse noch immer die aktuelle Firmenpolitik beeinflussen könnten. Sein - durchaus ausgeprägtes - Ego kann er hinter das Wohl des Unternehmens stellen.
Ihm ist wichtig, dass die Geschichte nicht vergessen wird, weil sie auch eine Intension trägt: Einzelne können, wenn sie Mut aufbringen, viel bewegen. Und dies nicht nur für sich:. Er schreibt: „Hier lag und liegt nach wie vor die Firmenzentrale, hier fallen die Entscheidungen über Strategie, über Tochterunternehmen, über Forschung, alle Entscheidungen über die und für die Mitarbeiter.“


