"Eine permanente Finanzkrise" "Eine permanente Finanzkrise": Weltwirtschaft enttäuscht die Experten

Kurt Tucholsky brachte es vor 84 Jahren auf den Punkt: „Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten“, schrieb er im September 1931. Das gilt noch immer. Seit einiger Zeit jedoch hat die Weltwirtschaft eine weitere Eigenschaft: Sie enttäuscht, zumindest die Experten. Jahr für Jahr sagen sie eine kräftige globale Erholung voraus, die aber stets mager ausfällt.
Kaum geht es in einem Teil der Welt bergauf, gerät ein anderer in die Krise – derzeit sind die Schwellenländer dran. Die Zentralbanken halten dagegen, indem sie immer mehr Geld in die Welt pumpen. Das Resultat nennt die französische Bank Natixis „eine permanente Finanzkrise“.
Dritte Krise in nur einem Jahrzehnt
Mit dem Abschwung in China und der Kapitalflucht aus den Schwellenländern droht der Welt die dritte Krise in nur einem Jahrzehnt. 2008 ließ die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers die amerikanische Immobilienblase platzen. Es folgte ab 2010 die Finanzkrise der Euro-Zone. Fast nahtlos schließen sich nun die Turbulenzen in Afrika, Asien und Lateinamerika an. Von Russland über Südafrika, Brasilien und der Türkei fallen die Währungen und Börsenkurse. In der Krise in den USA und Europa war Kapital massenhaft in die Schwellenländer geströmt, finanzierte dort einen Aufschwung, aber auch Überkapazitäten und Schuldenberge. Nun flieht es die einstigen Boom-Regionen. „Die Periode zwischen 2002 und 2007 wird als goldene Ära in die Geschichtsbücher eingehen“, schreibt Dominic Rossi, Chief Investment Officer der Fondsgesellschaft Fidelity, in der Financial Times.
Die Folgen sind weitreichend, da die Schwellenländer heute ein viel größeres Gewicht haben früher. So lässt ihr Abschwung die Rohstoffpreise taumeln, was nicht nur Russland und Brasilien, sondern selbst Länder wie Kanada in die Rezession treibt. Der Welthandel ist im ersten Halbjahr 2015 geschrumpft, üblicherweise eine Begleiterscheinung globaler Krisen.
Zwar geht es mit der Wirtschaft in den USA bergauf, der Aufschwung bleibt aber weit hinter dem zurück, was in früheren Erholungsphasen verzeichnet wurde. Zudem steigen die Lohneinkommen der Amerikaner kaum. Auch die Euro-Zone kommt aus dem Konjunktur-Loch, allerdings nur langsam, in vielen Ländern liegt die Produktion noch unter dem Stand von 2008. In Deutschland hing das Wachstum zuletzt an den Exporten, „was jedoch angesichts des rauen internationale Gegenwinds kaum aufrecht zu erhalten sein wird“, urteilt die Deutsche Bank. Die deutschen Maschinenbauer meldeten vergangene Woche, dass ihre Produktion im ersten Halbjahr 2015 zurückgegangen sei, die China-Ausfuhren schrumpften um fünf Prozent.
IWF muss Werte nach unten korrigieren
Zwar äußerte Bundesbankchef Jens Weidmann im Vorfeld des G20-Treffens in Ankara Beruhigendes: Eine dauerhafte Gefahr für die Weltwirtschaft gehe von der chinesischen Wachstumsschwäche nicht aus, es handele sich vielmehr um „eine Anpassung hin zu einem ausgewogeneren Wachstumspfad“ , wie Weidmann am Freitag vor Beginn der Gespräche sagte, an der die Notenbankchefs und Finanzminister der 20 wichtigsten Industrie-und Schwellenländer teilnehmen. Dass nicht alle Teilnehmer die Lage derart entspannt sehen, deutete Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble an: Man werde über China „natürlich sicherlich intensiver diskutieren“.
Daraus spricht die Sorge, der Aufschwung der Industrienationen könnte vorbei ein, bevor er recht begonnen hat. Analysten sagen voraus, dass sich das ohnehin nicht üppige Wachstum schon bald wieder abschwächen wird. Der „Wachstumszyklus hält schon sehr lange an“, so die DZ-Bank, „und hat sein Haltbarkeitsdatum wohl allmählich erreicht.“
Noch vor einem Jahr prognostizierte der Internationale Währungsfonds (IWF) der Weltwirtschaft ein Plus von vier Prozent. Diesen Wert korrigierte er anschließend auf 3,5 Prozent herunter, im Juli dann auf 3,3 Prozent, und vergangene Woche warnte IWF-Chefin Christine Lagarde, das Wachstum werde „wahrscheinlich“ noch geringer ausfallen. Denn die Entwicklung in den Industrieländern bleibe mäßig, und in den Schwellenländern gehe es abwärts. Nach „sechs Jahren der Nachfrageschwäche“ wachse die Wahrscheinlichkeit, dass die globale Wirtschaft dauerhaft Schaden nehme, so der IWF in einem Papier zur Vorbereitung des Treffens der G20-Staaten am vergangenen Wochenende.
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„Die G20 stehen vor einem Glaubwürdigkeitsproblem“
Das ist ein Problem. Zum einen produziert das Wachstum nicht genügend Jobs, kritisiert der internationale Dachverband der Gewerkschaften ITUC. In einer Umfrage in neun Ländern, die die Hälfte der Weltwirtschaftsleistung produzieren, klagten 55 Prozent der Menschen über stagnierende oder sinkende Einkommen. Die G20 habe Anfang 2014 versprochen, das globale Wachstum anzukurbeln. Um ihr Ziel zu erreichen, müsse sich dieses Wachstum jedoch verdoppeln. „Die G20 stehen vor einem Glaubwürdigkeitsproblem“, so die ITUC.
Zum anderen macht das schwache Wachstum die Bedienung der gestiegenen Schulden schwerer. „Hohe öffentliche Verschuldung in einem Umfeld niedrigen Wachstums und niedriger Inflationsraten sind eine zentrale Herausforderung“, schreibt der IWF.
Um die Konjunktur zu stützen und die Bedienung der Schulden zu erleichtern, haben die großen Zentralbanken der Welt in den vergangenen Jahren ihre Leitzinsen auf nahe Null gesenkt, Milliarden-Kredite an Banken gegeben und massenhaft Wertpapiere gekauft, kurz: Sie haben den Geldhahn weit aufgedreht und die Welt mit billigen Finanzmitteln versorgt. Das stützt zwar die Konjunktur und die Schuldner. Ohne das Einschreiten der Euro-Zentralbank zum Beispiel „wäre die Gemeinschaftswährung längst zerbrochen“, vermuten die Ökonomen beim Bankhaus Lampe.
Aggressive Geldpolitik muss beibehalten werden
Doch alles in allem bleibt das Ergebnis mager, die Weltwirtschaft dümpelt vor sich hin, trotz des Mega-Stimulus der Zentralbanken. Dennoch – oder gerade deswegen – muss die aggressive Geldpolitik beibehalten werden, fordert der IWF. Denn andernfalls droht eine weitere Schwächung des Wachstums. Zudem könnten steigende Zinsen die Schuldner in der ganzen Welt belasten – Pleitewellen wären die Folge. Aus Rücksicht auf die globalen Rückwirkungen wird die US-Zentralbank daher ihre erste Zinserhöhung seit 2006 voraussichtlich nicht wie geplant am 17. September durchführen, sondern erst im Dezember. Oder später.
Vor diesem Hintergrund wird die G20-Gruppe aller Voraussicht nach auch darauf verzichten, ausdrücklich gegen eine Zinserhöhung der USA Stellung zu beziehen, da die Geldschleusen der Federal Reserve bis auf weiteres ohnehin offen bleiben. In Japan und der Euro-Zone wird sogar über eine Ausweitung der Anleihekaufprogramme diskutiert. „Risiken und Nebenwirkungen der expansiven Geldpolitik – etwa die Jagd nach Rendite und die Risikobereitschaft an den Finanzmärkten – dürften noch weiter zunehmen“, prognostiziert Allianz-Öknomin Kathrina Utermöhl. Denn Teile des Geldes finden ihren Weg an die Finanzmärkte, wo auf die künftige Wirtschaftsentwicklung spekuliert wird und wo die Finanzmassen hin- und herwogen. Auch der IWF stellte vergangene Woche ein „Umfeld wachsender Schwankungsanfälligkeit an den Finanzmärkten“ fest, warnte vor einer „Umkehr der Kapitalströme“ und „störenden Vermögenspreisänderungen“.
Schwaches Wirtschaftswachstum, hohe Liquidität und Schulden produzieren den Zustand der „permanenten Finanzkrise“. Über die Ursachen des Dilemmas streiten die die Experten. Der IWF sieht die Gefahr einer „säkularen Stagnation“ und zitiert damit den US-Ökonomen Larry Summers, nach dessen Theorie die Industrieländer eine langanhaltende Wachstumsschwäche durchleben. „Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben“, schrieb Tucholsky 1931. „Das hat mehrere Gründe, die feinsten sind die wissenschaftlichen Gründe.“