Verletzte Seelen Verletzte Seelen: Kindern fehlt zu Hause Liebe
Halle/MZ. - Hier ein Klaps auf den Hintern, da ein Schlag ins Gesicht, und dort gar sexueller Missbrauch - Gewalt gegenüber Kindern ist leider immer noch alltäglich. Im Jahr 2003 sind allein in Halle 447 Kinder Opfer von Straftaten geworden, 55 Mädchen und Jungen wurden laut Polizei-Statistik sexuell missbraucht. Die Dunkelziffer liegt mindestens um ein Zehnfaches höher. Meist spielen sich solche Gewalt-Straftaten im Umfeld der Familie ab.
Folgerichtig nennt sich ein Präventions- und Opferhilfe-Programm in Halle "Interventionsprojekt häusliche Gewalt". Neben dem Initiator - der Arbeiterwohlfahrt - knüpfen Staatsanwaltschaft, Polizei, Richter, Anwälte, Psychologen und verschiedene Organisationen ein dichtes Netz gegen Gewalt. Welche Rolle spielt bei ihrer Tätigkeit die Familienerziehung? Vor allem darüber hat der Verein "Wir helfen" mit Verantwortlichen der Kinder- und Jugendarbeit diskutiert.
Walter Große-Wöhrmann, Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt in Halle, hat Bedrückendes festgestellt: "Immer mehr Kinder wachsen ohne Liebe, Zuwendung und Geborgenheit auf." Er kenne etliche Mädchen und Jungen, die vernachlässigt und geschlagen wurden, und die dennoch regelrecht um die Liebe ihrer Eltern betteln.
Dem pflichten auch Claudine Grumbach und Regina Triest vom Kinder- und Jugendhaus in Krosigk bei. Zwar meinten "Eltern zu 99 Prozent, die Kinder seien an einer Heimeinweisung selbst schuld, sie, die Eltern, hätten alles richtig gemacht", betont die Erzieherin Regina Triest. Dennoch werde versucht, auf Wunsch der Kinder den Kontakt zu den Eltern so weit es geht aufrecht zu erhalten. "Es ist einfach schlimm, wenn zu Feiertagen manche unserer Schützlinge nach Hause fahren können, aber einige absolut keine Familie mehr haben," sagt Claudine Grumbach, die Psychologin.
Der hallesche Jugendamtsleiter Lothar Rochau plädiert dafür, "sorgerechtseinschränkende oder -ent- ziehende Maßnahmen erst als letztes Mittel" anzusehen. "Jede Familie hat Stärken und Schwächen. Unsere Aufgabe ist es, bei den Stärken anzusetzen."
"Brauchen die Behörden manchmal aber nicht doch zu lange, um Kinder vor ihren gewalttätigen Eltern zu schützen?" fragt Jutta Kiegeland, stellvertretende Vorsitzende des "Wir helfen"-Vereins, provozierend in die Runde. Lothar Rochau schüttelt energisch den Kopf. Er betont, dass der Entzug des Sorgerechtes zugenommen habe, aber Beispiele wie das einer Mutter, der alle neun Kinder weggenommen worden sind, müssten die Ausnahme bleiben. Auch Gerlinde Kuppe, SPD-Landtagsabgeordnete und Mitglied im "Wir helfen"-Verein, rät dringend, die Familienarbeit nicht aufzugeben.
"Vom Ansatz her ist das richtig", meint Dr. Steffen Dauer, Leiter des Institutes für Rechtspsychologie in Halle. Aber das Gericht frage nach der Erziehungsfähigkeit der Eltern: Schützen oder gefährden sie das Kindeswohl? In manchen Familien, so der Psychologe, könnten Kinder nicht mehr geschützt werden, "und dann brauchen wir Einrichtungen wie das Haus in Krosigk."
Dass Psychologen und Psychiater Eltern durchaus helfen können, weiß auch Kerstin Osterburg von der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Barbara-Krankenhauses. Allerdings sei die Scheu vor der Psychiatrie oft noch groß. "Und obwohl wir uns in der Familientherapie viel Zeit nehmen, erreichen wir die Eltern in den meisten Fällen nicht und sind heilfroh, wenn wir eine gute Einrichtung für unsere jungen Patienten finden." Kerstin Osterburg wünscht sich wie auch Katrin Nelius vom Verein "Wildwasser" eine noch engere Zusammenarbeit aller Verantwortlichen, und das möglichst, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. "Es darf nicht vorkommen, dass von wem auch immer Hilfe verweigert wird mit dem Hinweis, es sei kein Geld da", liegt der Rechtsanwältin Elke Jonuscheit am Herzen. Ein anderer Appell richtet sich an die Kinderärzte. Auch sie müssten stärker an einem Strang ziehen und dürften sich bei Auffälligkeiten nicht hinter dem Datenschutz verstecken.
Halles Polizeipräsident Walter Schumann bestärkte seine Mitstreiter vom "Interventionsprojekt häusliche Gewalt" und alle Menschen, die Augen stets offen zu halten. Zwar nähmen die offiziellen Zahlen von Opfern im Kindesalter nicht zu, aber "es muss mehr Licht hinter die Dunkelziffer gebracht werden." Bezeichnend für mangelnde Zivilcourage sei die Aussage von Jugendamtsleiter Rochau: "In jeder Woche erreichen mich fast zehn Briefe mit Hinweisen über eine Vernachlässigung von Kindern. Leider immer anonym."