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Türkei Türkei: «Der Weg in die EU ist 26 Kilometer lang»

Von Ingo Bierschwale 16.08.2005, 08:26
Der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) ist zum Ehrenbürger der vor zweieinhalb Jahren von einem Erdbeben heimgesuchten osttürkischen Kleinstadt Pülümür ernannt worden (Foto vom 13.08.2005, rechts seine Frau Edith Welser-Ude). (Foto: dpa)
Der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) ist zum Ehrenbürger der vor zweieinhalb Jahren von einem Erdbeben heimgesuchten osttürkischen Kleinstadt Pülümür ernannt worden (Foto vom 13.08.2005, rechts seine Frau Edith Welser-Ude). (Foto: dpa) dpa

Pülümür/dpa. - Bereits heute leben und arbeiten mehr Menschenaus Pülümür in Deutschland und anderen europäischen Ländern, als dieStadt Einwohner zählt. Doch außer den «Pülümerern», die in München,Schweinfurt oder Darmstadt, in Lyon oder London eine zweite Heimatgefunden haben, verirren sich kaum Besucher aus Europa in die bizarreBergwelt der Provinz Tunceli, zu der Pülümür gehört. Und das ausgutem Grund.

Kurdische Guerilleros machen die Gegend erneut unsicher, seit diePKK vor einem Jahr die nach der Festnahme ihres Führers AbdullahÖcalan verkündete Waffenruhe für beendet erklärt hat. Seither wurdeerstmals wieder ein Soldat verschleppt, den militante Kurden beieiner nächtlichen «Straßenkontrolle» in Tunceli trotz Zivilkleidungals solchen erkannten. Ein in der Nachbarprovinz Bingöl verschleppterBürgermeister musste tagelang mit seinen Entführern durch die Bergeziehen, bevor er wieder freikam. Gefechte zwischen der Armee undbewaffneten PKK-Mitgliedern tun ein übriges, um die Gegend in den Rufeiner tunlichst zu meidenden Provinz zu erheben.

Dabei kommen die Bewohner der Gegend europäischen Maßstäbeneigentlich sehr nahe. Das islamische Kopftuch oder andereVerschleierungen liegen den Frauen dort fern. Beim Honigfest vonPülümür tanzen Mädchen und junge Männer gemeinsam vor der Bühne, aufder Sänger zu den Klängen des Saiteninstruments Saz für «europäischePartystimmung» sorgen. Viele Bewohner der Gegend sind zwar Kurden,vor allem sind sie aber Aleviten, die von der großen sunnitischenMehrheit der islamischen Bevölkerung der Türkei nicht gut angesehensind.

«Wir tolerieren ihren Glauben, aber sie tolerieren uns nicht»,sagt eine junge Alevitin, die in der südostfranzösischen Stadt Lyonwohnt und im Urlaub die anatolische Heimat besucht. Ihr ist dieMoschee in Pülümür ebenso ein Dorn im Auge wie das überlebensgroßePoster des türkischen Republikgründers Atatürk, das zum Honigfest dasGebäude der Kreisverwaltung schmückt. Anders als die meisten anderenMoslems beten Aleviten nicht in Moscheen, sondern in «cem evi»genannten Gotteshäusern - Frauen und Männer gemeinsam.

Sympathien mit den Guerilleros der PKK, die sich hin und wiederGefechte mit den Soldaten liefern und mit Entführungen auf sichaufmerksam machen, haben die wenigsten Aleviten in Tunceli.Andererseits verdächtigen nicht wenige den Staat, den Kampf gegen dievon ihm so bezeichneten «Terroristen» als willkommenen Vorwand zunutzen, um die Provinz von der Außenwelt abzukapseln, die Entwicklungzu hemmen und die Entvölkerung voranzutreiben.

Dem Trend entgegen wirken soll ein neues Bildungs- undKulturzentrum, dessen Grundstein am Tag des Honigfestes in Pülümürgelegt wurde. Benannt wurde es wegen vielfacher persönlicherBeziehungen zwischen München und Pülümür nach dem Oberbürgermeisterder bayerischen Landeshauptstadt, Christian Ude. Als Ehrenbürger derStadt versprach Ude seinem türkischen Kollegen Mesut Coskun, sichbei Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan für den Ausbau der Straßeeinzusetzen. In Abwandlung der auf die Unterentwicklung des Südostensanspielenden Devise: «Der Weg der Türkei in die EU führt überDiyarbakir», will Ude bei Erdogan mit der Parole werben: «Der Weg indie EU ist 26 Kilometer lang.» So lang ist die Straße nach Pülümür.