Tschechien Tschechien: Tschechen leben trotz Sorgen froher als Deutsche
Prag/dpa. - Viele Tschechen verfolgen in diesen Wochen gespanntdie Kontroversen um die Sozialpolitik der rot-grünen Regierung inDeutschland. Die Sorgen des großen Nachbarn sind ihnen nicht fremd -auch das neue EU-Mitglied wird von wirtschaftlichen Problemengedrückt: fast zehn Prozent Arbeitslosigkeit, strukturschwacheRegionen, einsetzende Landflucht. Große Demonstrationen in Prag, Brno(Brünn) oder Ostrava (Ostrau) scheinen trotzdem undenkbar.
«Zahlreiche Ostdeutsche vergleichen ihren Wohlstand mit jenem inWestdeutschland und sind unzufrieden. Wir Tschechen hingegenvergleichen unseren Lebensstandard mit dem, was früher war und sindüber die Änderung froh», meint Stanislav Odermatt. Der 42-Jährigebetreibt in Prag einen Lebensmittelladen. «Mein Bekannter in Hallefuhr vor der Wende einen Trabbi und beneidete mich um meinen Skoda.Jetzt hat er einen Volvo, eine tolle Wohnung und einen Job bei derVersicherung. Aber er ist unglücklicher als früher. »
«Was Ostdeutschen wohl am meisten weh tut, ist das Reduzierenihrer Vergangenheit auf Stasi, Stacheldraht und Spreewaldgurken»,glaubt der Soziologe Bohumir Vlcek. Andererseits hätten die Ex-DDR-Bürger noch keine Chance zur Aufarbeitung der kommunistischen Äragehabt, meint er. Ähnlich sieht es das Magazin «Respekt»: «Auf dieTransformation war Ostdeutschland nicht vorbereitet - man stelle sichvor, die Tschechoslowakei wäre 1990 der EU beigetreten.»
Auch den ehemaligen tschechischen Präsidenten Vaclav Havelüberraschen die Probleme nicht. Die Spannungen zwischen Ost und Westberuhen seiner Meinung nach darauf, dass die Marktwirtschaft in Ost-Deutschland «von heute auf morgen» eingeführt worden sei. Dies habedie Menschen schlicht überfordert, meint der frühere Dissident.
Dem von Havel einst bekämpften CSSR-Regime trauert Umfragenzufolge etwa ein Drittel der rund zehn Millionen Tschechen nach.Politisch schlug sich dies bei den Europa-Wahlen im Juni mit demrelativ hohen Stimmenanteil von 20,3 Prozent für Kommunisten nieder.«Die Änderungen haben vor allem ältere sowie weniger gebildeteMenschen desorientiert», glaubt Vlcek. «Aber die überwältigendeMehrheit der Tschechen unterliegt nicht der Versuchung, aus einemGefühl der Ohnmacht nostalgisch in die Vergangenheit zu schielen.»
Auch Michal Malatny tut es nicht: Der Chef der Rockgruppe«Chinaski» rechnet im Lied «1970», seinem Geburtsjahr, unsentimentalmit dem früheren Regime ab: «Damals war das ein anderer Staat, undich war unglaublich dumm», singt der 34-Jährige und beklagt: «MeineAlten sagten immer: Misch dich bloß nicht ein und kämpf nie allein.»«Chinaski» hätten perfekt das Gefühl ihrer Generation ausgedrückt,befand die Prager Kunstakademie unlängst und kürte die Wende-Hymne im15. Jahr der Revolution zum «Lied des Jahres».
Nach Angaben des Sozialministeriums leben acht Prozent derTschechen unter der Armutsgrenze und acht Prozent knapp darüber.Zudem hat das sozialliberale Kabinett in Prag unlängst «Hartz IV»-ähnliche Reformen beschlossen. Warum kommt es trotzdem nicht zuMassenprotesten? «Anders als Ostdeutschland hilft uns kein reicherWestteil», meint Vlcek. «Das ist finanziell schade, birgt aber einengroßen psychologischen Vorteil: Wir können Fehler nicht auf andereschieben, und kein "Besserwessi" kommt und schreibt uns etwas vor.»
«Im Unterschied zu Deutschland kommen in Tschechien wenigeArbeitslose auf die Idee, zu demonstrieren», glaubt Odermatt. «Dieeinen erwarten von keiner Regierung, dass sie ihre Probleme löst. Undandere sind zwar erwerbslos gemeldet, arbeiten aber schwarz - ichkenne einige», sagt der Mittelständler. «Viele Tschechen habenGeduld, weil sie glauben, dass es nach dem EU-Beitritt bergauf geht»,meint der Publizist Tomas Kafka. «Zudem schmerzen die Reformen nichtso sehr wie in Deutschland - jedenfalls noch nicht.»