1. MZ.de
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. Sensationsgier in sozialen Netzwerken: Sensationsgier in sozialen Netzwerken: Die Sucht nach Voyeurismus

Sensationsgier in sozialen Netzwerken Sensationsgier in sozialen Netzwerken: Die Sucht nach Voyeurismus

Von Melanie Reinsch 16.11.2015, 13:53
Schauten die Geschäftsführer der Facebook GmbH und Facebooks Nordeuropa-Chef bei Hetztiraden bewusst weg?
Schauten die Geschäftsführer der Facebook GmbH und Facebooks Nordeuropa-Chef bei Hetztiraden bewusst weg? dpa Lizenz

Berlin - Mindestens 129 Menschen sind bei den Anschlägen in Paris ums Leben gekommen. Hunderte sind verletzt, viele Menschen schweben noch in Lebensgefahr. Immer weitere persönliche Details über die Opfer kommen ans Tageslicht. Privates aus dem Leben der Opfer: ein Bild eines jungen verletzten Tirolers: Screenshot Facebook.

Ein Franzose, der vor dem Konzert im Bataclan in Paris noch bei Facebook schrieb, dass er sich auf das Konzert freue. Das Profilfoto zum Text: von Facebook. Eine junge Frau, von der man aus den Medien erfährt, wann sie nach Paris zog: eine Information von Facebook, genau wie das dazugehörige Foto zum Text.

1,5 Milliarden Menschen nutzen das Soziale Netzwerk weltweit. Über diese Kanäle stellen Menschen tagtäglich unzählige persönliche Informationen über sich ins Internet. Private Schnipsel aus dem Leben: Fotos von Urlaubsreisen, Selfies mit Freunden aus der Bar, ein Schnappschuss der Familie.

Sie klicken auf den Gefällt-Mir-Button, um zu zeigen, welche Musik sie interessiert, welche Partei, welcher Star, welches Restaurant. Sie klicken auf „teilnehmen“, wenn sie zu einer Buchlesung oder einem Konzert gehen. Sie kommentieren, wenn ihnen ein Statement eines Politikers nicht zusagt, schicken traurige oder lustige Smileys in die digitale Welt, um ihre Zu- oder Abneigung zu artikulieren.

Wir gehen zu sorgenlos mit unserer Privatsphäre um

Manche teilen diese Informationen so öffentlich, dass sie jeder abrufen kann, andere lassen nur eingeschränkte Blicke ins Private zu – doch so ganz sicher sind wir uns nie, wer was genau sehen kann – niemand durchschaut die Richtlinien von Facebook gänzlich.

Manchmal erschrickt man, wenn jemand erzählt, was er über einen weiß – obwohl man doch ganz sicher war, dass es Informationen waren, die nicht öffentlich geteilt wurden. Dieses Leben im Netz ist ein Teil von uns geworden. Das Agieren im Digitalen verläuft oft unbedarft, manchmal kontrolliert, selten sonderlich sorgenvoll.

Und das, obwohl wir alle längst wissen und verstanden haben, dass unsere Daten gesammelt, gespeichert, verwendet und auch missbraucht werden können. Das stört die wenigsten von uns. Wir sind auf diesem Auge blind. Denn die Alternative wäre: Nicht dabei sein. Doch dann verpassen wir doch viel zu viel, oder? Mantramäßig betonen wir stets, dass sich niemand jemals für unsere Daten interessieren wird.

So unwahr ist das sicher nicht. Die wenigsten von uns werden sich jemals mit dieser Frage weiter auseinandersetzen müssen. Doch was passiert, wenn alles anders kommt? Wenn unsere unbedarft geteilten Fotos auf öffentliches Interesse stoßen?

Wir gieren nach persönlichen Details und Bildern

Warum suchen wir nach Puzzlestücken, die wir zusammensetzen wollen, um das Leben eines Opfers nachzuzeichnen? Ein Argument ist, dass wir die Opfer jenes grauenhaften Massakers damit entanonymisieren, den Menschen ein Gesicht geben wollen. Wir gieren nach persönlichen Details.

Und gleichzeitig wissen wir: Wir machen uns damit zu Voyeuristen. Wir wissen, dass dieses Bedürfnis eine Grenze überschreitet. Eine Grenze, die die Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte von Menschen verletzt. Von Menschen, die nicht mehr darüber entscheiden können, welche Informationen über sie die ganze Welt zu Gesicht bekommt. Angehörige sind oft machtlos, denn die Bilder sind öffentlich abrufbar.

Es ist ein Widerspruch. Wir kennen den Moment, wenn man an einem Autounfall vorbeifährt und wir nicht hinsehen wollen und es trotzdem tun. Wir kennen den Moment, wenn wir Videos und Fotos im Netz finden, von denen wir wissen, dass wir sie besser nicht ansehen sollten, weil sie schlimm sind.

Und trotzdem klickt man drauf. Unsere Nachfrage nach diesen Informationen schafft das Angebot. Doch diese Details machen das Passierte weder ungeschehen, noch bringen sie irgendeinen Mehrwert oder tragen zur Aufklärung bei. Sie befriedigen ausschließlich unsere Neugier, unsere Sensationsgier. Bei jedem Klick auf diese Bilder, Fotos und Videos sollten wir uns jedoch immer fragen: Hätte ich gewollt, dass mein Facebook-Foto nach meinem Tod im Internet kursiert?

Unsere privaten Informationen und Fotos sind für Außenstehende leicht zugänglich.
Unsere privaten Informationen und Fotos sind für Außenstehende leicht zugänglich.
AFP Lizenz