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RAF-Terrorismus 1977 RAF-Terrorismus 1977: «Hanns Martin Schleyer könnte noch leben»

Von Georg Ismar 03.09.2007, 08:34
Der ehemalige Polizist Ferdinand Schmitt steht vor dem Hochhaus «Zum Renngraben 8» in Erftstadt-Liblar, im Herbst 1977 das Versteck der RAF-Terroristen. (Foto: dpa)
Der ehemalige Polizist Ferdinand Schmitt steht vor dem Hochhaus «Zum Renngraben 8» in Erftstadt-Liblar, im Herbst 1977 das Versteck der RAF-Terroristen. (Foto: dpa) dpa

Erftstadt/dpa. - «Hanns MartinSchleyer könnte noch leben», sagt der Polizeibeamte a.D. heute. Der Konjunktiv ist seit 30 Jahren Schmitts treuer Begleiter. Er hatte unter den tausenden Hinweisen den richtigen Tipp auf das«Volksgefängnis» gegeben, wo die RAF den Arbeitgeberpräsidentengefangen hielt. Aber Schmitts Fernschreiben mit dem Hinweis auf die Wohnung am Renngraben 8 versandete - irgendwo auf dem Dienstweg zwischen Hürth und Köln.

Es war eine der größten Polizeipannen der Nachkriegsgeschichte.Nun, da sich der Deutsche Herbst zum dreißigsten Mal jährt, kommendie Gedanken bei dem 77-Jährigen wieder hoch. Gelegentlich kehrter zurück zu dem Gebäude, das seit 30 Jahren nur noch als «Schleyer-Hochhaus» firmiert. Der kalte Wind und das schwarz-graue Wolkenspiellassen Herbststimmung aufkommen. «Da wo das Mädschen steht, haben sieihn eingesperrt», sagt Schmitt mit rheinischem Dialekt und zeigt aufden Balkon im dritten Stock.

Rückblick 1977: Deutschland gleicht nach der Entführung von HannsMartin Schleyer am 5. September in Köln einem Hochsicherheitstrakt.Im Großraum Köln schwärmen hunderte Polizeibeamte aus, um Wohnungenzu finden, die in das RAF-Raster passen. Das Haus «Zum Renngraben 8»in Erftstadt-Liblar mit knapp 130 Wohnungen erfüllt alle Kriterien:Anonym, in unmittelbarer Nähe zur Autobahn gelegen und mit einerTiefgarage und Lift ausgestattet.

Während Schmitt am 7. September Hausmeister Korn nachAuffälligkeiten bei Anmietungen in letzter Zeit fragt, wird inAppartement 104 Schleyer gefilmt. Er fleht, die Forderungen derTerroristen zu erfüllen. Als Schmitt mit der Hausverwaltung spricht,riecht er sofort Lunte: Die 800 Mark Kaution waren von einer Fraunamens Annerose Lottmann-Bücklers mit einem Bündel Geldscheine barbezahlt worden. Und beim Einzug wurden keine Möbel in die Wohnunggetragen.

Annerose Lottmann-Bücklers war in Wahrheit die damalige RAF-Terroristin Monika Helbing. Schmitt lässt am Nachmittag FernschreibenNr. 7 absetzen, doch dann passiert das Unglaubliche: nichts. EinKollege von der Dienstelle Hürth sagt ihm später: «Ferdi, der Hinweisist als nicht relevant eingestuft worden.» Man sieht Schmitt an, wiees in ihm arbeitet, als er den Satz wiederholt.

Schon bei einer schnellen Überprüfung des Namens Lottmann-Bücklers, der auch auf dem Klingelschild stand, hätte das vomdamaligen BKA-Präsidenten Horst Herold entwickelte ComputersystemPIOS (Personen, Institutionen, Objekte, Sachen) Alarm ausgelöst.Annerose Lottmann-Bücklers hatte binnen kurzer Zeit vier Mal denPersonalausweis und zwei Mal den Reisepass als gestohlen gemeldet. Eswurde vermutet, dass sie die Pässe der RAF zur Verfügung stellte unddie Terroristen ihre Identität für Anmietungen benutzten.

Als keine Reaktion der höheren Dienststelle erfolgt, will SchmittStrom und Wasser in der Wohnung Nummer 104 sperren lassen, um dieTerroristen aus ihrem Versteck zu locken. Doch dies wird ihm striktuntersagt. Einmal klingelt er sogar an der Haustür. Durch den Spionsehen ihn die Terroristen sicherlich - aber die Tür bleibt zu.

Sechs Wochen später, am 19. Oktober, wird die Leiche Schleyers imKofferraum eines Audis im französischen Mülhausen gefunden. DieOperation «Big Raushole» zur Freipressung führender RAF-Mitgliederwie Andreas Baader, Jan-Carl Raspe oder Gudrun Ensslin war mit dergescheiterten Entführung der Lufthansa-Maschine «Landshut» endgültigfehlgeschlagen.

Ferdinand Schmitt wurde nicht zum Retter von Hanns MartinSchleyer. Noch heute ist der ehemalige Polizist verbittert über dieAnordnungen und Maßregelungen «von oben», von der «hochheiligen Sokoin Köln», vom fehlenden Vertrauen in die ortskundigen Beamten. Ob erjemals eine Entschuldigung von offizieller Seite erhalten hat?«Nein», sagt Schmitt. «Die hätte ich auch nicht angenommen.»