Niederrhein Niederrhein: Die Holländer sind schon da

Kranenburg/dpa. - MancherDurchreisende mag sich dann bereits in den Niederlanden wähnen.Obwohl die Grenze noch ein paar Kilometer entfernt ist, wirdKranenburg immer niederländischer - jeder vierte der 10 000 Einwohnerkommt bereits «von drüben».
Joop Peren (58) gerät ganz schön ins Schwitzen, als er an diesemSommertag die niederländische Trikolore vom Badezimmerfenster seinesHauses aus in die Halterung bugsiert. Als es geschafft ist, biegtgerade ein Radfahrer um die Ecke. «Hoi!», grüßt er - es ist einLandsmann mit einem Strauß Schnittblumen im Fahrradkorb. Niederländerunter sich.
Wenn Peren aus dem Badezimmerfenster über die niederrheinischeEbene schaut, kann er sich zu Hause fühlen: Grenzenloses Flachlandmit Pappelalleen, geduckten Kirchtürmen und eingesprenkeltenGehölzen. Die Wolken geben schon eine Ahnung vom Meer.
Auf 50 000 bis 80 000 schätzt Bert Schipper die Zahl derNiederländer, die sich in den letzten zehn Jahren im nordrhein-westfälischen und niedersächsischen Grenzgebiet angesiedelt haben.Schipper, der als Beamter in der niederländischen Stadt Hengeloarbeitet, aber in Bad Bentheim wohnt, berät die Emigranten auf seinerWebsite verhuis.de. Für die plötzliche Beliebtheit Deutschlands gibtes einen handfesten Grund: Ein Eigenheim kostet bei den«oosterburen», den Nachbarn im Osten, oft nur halb so viel wie in demam dichtesten besiedelten Land Europas, das in den letzten 15 Jahrenzudem einen enormen Wirtschaftsboom erlebt hat.
Peren ist Kriminalkommissar bei der Polizei Nimwegen und wohntbereits seit sieben Jahren in Kranenburg. Ein so großes, freistehendes Haus wie hier wäre wenige Kilometer weiter auf der anderenSeite der Grenze für ihn unerschwinglich gewesen. Und dazu auch nochvoll unterkellert, «das gibt es in Holland nicht, das war für meineFrau sehr wichtig».
An diesem sonnigen Nachmittag steht Peren in seinem weitläufigenGarten, blickt über Wiesen und Felder und seufzt zufrieden: «Wofürmüssen wir noch in Urlaub fahren?» Die Landschaft ist hier noch nichtso zersiedelt wie auf der anderen Seite. Es fehlen Treibhausstädteund ausufernde Gewerbegebiete; Kranenburg liegt mitten imNaturschutzgebiet Düffel. Hier nisten Störche auf den Dächern, undüber den zahllosen Tümpeln und Wasserläufen kreisen Kormorane undwilde Schwäne.
Perens Frau Rosine Bentley (46) dümpelt auf einer Luftmatratze imPlanschbecken und verschwendet dabei keinen Gedanken an dieNordseeküste. Ihr kleiner Jack Russell springt auch noch mit rein -«er heißt Rex, nach der deutschen Fernsehserie».
Peren wird vom Kranenburger Bürgermeister Günter Steins (CDU) gernals Musterbeispiel des voll integrierten Niederländers vorgeführt. Erist Mitglied im örtlichen Kegelclub und bewirbt sich bei dernordrhein-westfälischen Kommunalwahl am 30. August als CDU-Direktkandidat um einen Sitz im Gemeinderat.
Das Integrieren war für ihn kein Problem, sagt er. Anfangs kannteer sich zwar noch nicht so aus, aber eines wusste er: Die Deutschentrinken gern Bier und essen gern Wurst. «Da haben wir einfach einGrillfest gemacht. Das war zwar für die meisten Deutschen einKulturschock, weil bei uns Holländern jeder sein Fleisch selbergrillen muss, kam aber trotzdem gut an.» Die Nachbarschaft, so verräter, sei vorher etwas «ingekakt» - verschlafen - gewesen. «Da habenwir ein bisschen Pepp reingebracht.»
Das kann Alido D'Orlando, Inhaber eines kleinen Eiscafés, vollunterschreiben, und er ist als Italiener quasi eine neutrale Instanz.«Die Holländer sind locker, die Deutschen sind noch zu kalt.» Trotzgeografischer Nähe sind die beiden Nationen sehr verschieden, findeter. Das sieht man schon daran, dass sie ganz andere Eissorten wählen:«Die Holländer sind für die Klassiker: Vanille, Schokolade. DieDeutschen wollen immer was Neues: Knoblauch-Eis und Champignon-Eisund so was.»
Ohne die Holländer hätte er schon längst zumachen können, sagtD'Orlando. Bürgermeister Steins bestätigt: «Ohne Niederländer könnteman das Licht hier ausmachen.» Das Ruhrgebiet ist weit, aber dieblühende Wirtschaftsregion Nimwegen/Arnheim liegt direkt vor derHaustür. Dank des Zustroms der Niederländer schrumpft Kranenburgnicht mehr, sondern wächst - und zwar weit über demLandesdurchschnitt. Dazu kommt noch, dass die meisten Zuzügler jungsind. Fast jedes zweite Kind, das in Kranenburg geboren wird, hatmittlerweile einen niederländischen Pass.
Viele Niederländer reden in den höchsten Tönen über ihre neueHeimat Duitsland. «Ich geh' nie mehr hier weg», versichert Peren.«Mir gefällt's großartig. Was mich sehr anspricht, ist das Feiern unddass man sich gegenseitig aushilft - das sind Werte, die in Hollandvor 20 Jahren verloren gegangen sind. Es gibt hier noch sozialesLeben und eine Sicherheit, wie man sie drüben in Nimwegen nicht mehrfindet.» Waldorf-Lehrerin Joke Bijl (60) schwärmt: «Als ich einzog,standen die Nachbarn mit Blumen vor der Tür. Ich wohne jetzt erst einhalbes Jahr hier, und schon sagen viele Leute auf der Straße: "HalloJoke!"»
Manche Niederländer beschweren sich gar, dass in ihrerNachbarschaft zu viele Niederländer wohnen - sie würden auch gernemal einen Deutschen kennenlernen. Dafür werden sie jetzt wie Deutschebehandelt, wenn sie mit ihrem Auto mit weißem Kennzeichen über dieGrenze fahren: Beim Einfädeln lassen ihre Landsleute sie nicht mehrrein.
Natürlich gibt es auch die eine oder andere Sache, die ihnen nichtso gefällt. Peren stört vor allem: «Das bürokratische Denken, dasPodest, auf dem hier vor allem die Behörden noch stehen.» Überhauptist der bürokratische Aufwand eines «Doppellebens» auf beiden Seitender Grenze nicht zu unterschätzen, zum Beispiel beiVersicherungsfragen. Peren warnt andere Niederländer immer, dass siesich die Sache nicht zu einfach vorstellen dürfen: «Das ist wieEmigrieren nach Australien.»
Die Feinheiten der deutschen Mentalität erschließen sich erst mitden Jahren. «Meine Frau hat mal für 30 Personen Kuchen bestellt inder Erwartung, 30 Stücke zu bekommen», erinnert sich Bert Schipper.«Als sie die Bestellung abholte, bekam sie 70 Stücke. "Jeder nimmtdoch mindestens zwei", hieß es...» Rätselhaft erscheinen auch diedeutsche Mülltrennung und der plötzlich vor der Tür stehende schwarzeMann: Schornsteinfeger kennt der Holländer in dieser Form nicht.
Manche kommen mit der Vorstellung nach Kranenburg, dass sie dorteinfach nur wohnen, aber sonst weiterhin alles in den Niederlandenmachen. Sie lernen noch nicht einmal Deutsch. Das gelte sogar für die«breite Masse» der Niederländer, kritisiert Thomas Janssen,Vorsitzender des örtlichen Karnevalsvereins. Außerdem verdrängten diefinanzkräftigen Neu-Kranenburger die Einheimischen vomImmobilienmarkt: «So mancher Deutsche kann sich hier gar keinEigenheim mehr leisten.» Bürgermeister Steins gibt zu: «DerGrundstücks- und Wohnungsmarkt wird von den Niederländern bestimmt.»
Und das hat Folgen. Kranenburg lag jahrhundertelang imDornröschenschlaf. An der historischen Stadtmauer kleben winzigeHäuser aus dunklem niederrheinischen Backstein, bei denen man imVorbeilaufen bis an die Dachrinne fassen kann. Doch in den letztenJahren sind am Ortsrand pompöse Villen entstanden. Man sieht genau:Da hat sich jemand seinen Traum von einer breiten Zufahrt mitknirschendem Kies erfüllt.
Steins will die Neubürger einbeziehen, und er sieht Fortschritte.Der Schützenverein hat neulich sieben neue Mitglieder aufgenommen -alles Niederländer. 80 Prozent der niederländischen Grundschulkindergehen auf die zweisprachige Schule in Kranenburg - früher schickten80 Prozent ihre Kinder über die Grenze. «Wir sind jetzt dabei,Kinderkrippenplätze zu organisieren, weil das für die Niederländerganz wichtig ist, schon Kinder ab sechs Monaten in die Krippe gebenzu können.»
Niederländische Freunde und Arbeitskollegen reagieren oft mitErstaunen auf den Umzug ins östliche Ausland. «Viele imBekanntenkreis haben gesagt: "Was ist das denn für eine verrückteIdee?"», erzählt Jeannette Wolff (56), die seit drei Jahren in einerumgebauten Kneipe in Kranenburg lebt. Sie kann das auchnachvollziehen: «Bis vor drei Jahren habe ich selbst mit dem Rückennach Deutschland gestanden und mit dem Gesicht nach Amsterdam undRotterdam.»
Peren hatte auch so seine Probleme, als in seinem früherenniederländischen Wohnort bekannt wurde, dass er nach Deutschlandziehen wollte. «Ich bin von ein paar jungen Leuten angerufen worden,und die haben gesungen: "Het zijn kutmoffen!" (Es sindScheißdeutsche). Naja, ich bin nicht umsonst bei der Kripo. Binneneiner halben Stunde wusste ich, wer das war.»
Am deutsch-niederländischen Stammtisch im alten KranenburgerBahnhof ist über solche Dinge schon manches Mal bis tief in die Nachtdebattiert worden. In der Mitte des Tisches steht dann ein Kranich -das Symbol von Kranenburg - mit Holzklotschen an den Füßen. Aber auchim Rathaus oder in der umgebauten Kneipe von Jeannette Wolff sitzenNiederländer und Deutsche oft zusammen. Und dabei geht es in letzterZeit gar nicht mehr in erster Linie um nationale Besonderheiten,sondern um den geplanten Bau riesiger Windräder am Ortsrand, den alleverhindern wollen. Zusammen haben sie eine Bürgerinitiativegegründet. «Wir verfolgen jetzt ein gemeinsames Ziel, und dasschweißt uns zusammen», erzählt Jeannette Wolff. «Ich sage schon nurnoch "Wir in Kranenburg...", und das ist doch ein gutes Zeichen.»