1. MZ.de
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. Nachruf auf Kardinal Karl Lehmann: Nachruf auf Kardinal Karl Lehmann: Mit großem Herz und klarem Kopf

Nachruf auf Kardinal Karl Lehmann Nachruf auf Kardinal Karl Lehmann: Mit großem Herz und klarem Kopf

Von Joachim Frank 11.03.2018, 09:13
Kardinal Karl Lehmann
Kardinal Karl Lehmann dpa

Köln - Wäre es allein auf die Macht des Wissens und des Verstands angekommen – Karl Lehmann hätte noch sehr viel mehr bewegen können. Weil aber auch in der katholischen Kirche die Macht nicht selten bei denen liegt, die am geschicktesten damit spielen, bleibt der Mainzer Kardinal vor allem als einer in Erinnerung, von dem die Bibel sagt: den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten.

Zu kämpfen hatte der gebürtige Sigmaringer wahrlich viel in seinem Leben, und immer betrachtete der Sohn eines Volksschullehrers und einer Buchhändlerin, der seine Ausbildung als Theologe und Philosoph in Freiburg und dann in Rom an der Päpstlichen Universität Gregoriana absolviert hatte, eine auf intellektueller Redlichkeit, fundierter Bildung und gründlichem Studium fußende Argumentation als seine schärfste Waffe. Darum war seine Bibliothek im Mainzer Bischofshaus mit ihren 30.000 Bänden für Lehmann auch so etwas wie ein Gefechtsstand und eine Trutzburg in theologischen und kirchenpolitischen Konflikten. Das Verzeichnis seiner mehr als 1000 Schriften stellte ein schier unerschöpfliches Arsenal dar, in das er nach Belieben greifen konnte. Lehmann war ein Ausbund an Gelehrsamkeit und stupender Belesenheit. „Neu erschienen“ und „von Karl Lehmann gelesen“ – das von einem wichtigen Buch zu sagen, sei ein und dasselbe gewesen, sagt sein Schüler Hans-Joachim Höhn, Professor an der Universität zu Köln, bewundernd. „Er war ein ‚Speed-Reader‘, der mit dem Schleppnetz durch die Buchhandlungen zog und sich den Fang danach in nächtelanger Lektüre einverleibte.“ Menschen aus seiner Umgebung erzählen, Lehmann habe selten mehr als drei bis vier Stunden geschlafen. Manchmal übermannte ihn dann tagsüber die Müdigkeit, einmal sogar in einer Pressekonferenz in Berlin, worüber Kameraleute und Fotografen diskret hinwegsahen.

Mitarbeiter von Karl Rahner

Zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965) und danach war der 1963 zum Priester geweihte Lehmann Zu- und Mitarbeiter des großen Konzilstheologen Karl Rahner. Beide verband sowohl die Offenheit für die zeitgenössische Philosophie als auch der Wunsch, die von Papst Johannes XXIII. (1958 bis 1963) mit dem Programmwort „Aggiornamento“ ausgerufene Erneuerung und Verlebendigung der katholischen Kirche voranzubringen.

Lehmann war zwar ein Bücherfresser, aber nie ein Bücherwurm. Was ihn als Professor in Mainz und Freiburg und und danach seit 1983 als Bischof von Mainz antrieb, waren die Fragen und die Nöte, die das Leben der Menschen an ihn herantrug. So folgte sein jahrzehntelanger Einsatz für die Ökumene samt einem vom Vatikan brüsk abgeschmetterten Vorstoß zur gemeinsamen Kommunion für konfessionsverschiedene Eheleute aus dem Jahr 1993 nicht zuletzt aus der Erfahrung, wie sehr die Kirchentrennung den Alltag katholischer und evangelischer Christen belastete. „Karl Lehmann war so sehr beansprucht von seiner Zeitgenossenschaft, dass ihm als Theologe der eigene systematische Entwurf, das eine große Werk nie gelungen ist“, sagt Hans-Joachim Höhn. Darunter habe sein Lehrer zwar gelitten, aber er war nicht der Typ, der sich vom Missmut gefangen nehmen ließ. „Sein theologisches Denken ist von den Realitäten des Lebens geprägt“, hielt der Bochumer Theologe Thomas Söding als Festredner zu Lehmanns 80. Geburtstag 2016 in Mainz fest. Was bei anderen Anekdote bleiben würde, werde bei Lehmann „zum Argument, weil er ein theologisches Koordinatensystem ausgebildet hat, das es ihm erlaubt, menschliche Erfahrungen mit der Suche nach Gott zu verbinden.“

Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

1987 wurde Lehmann zum Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gewählt. Als quasi erste Amtshandlung verlangte Papst Johannes Paul II. (1978 bis 2005) von ihm, die „Königsteiner Erklärung“ zurückzunehmen. Mit diesem Dokument aus dem Jahr 1968 hatten die deutschen Bischöfe auf das Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung in der Enzyklika „Humanae Vitae“ Papst Pauls VI. (1963 bis 1978) reagiert und die unaufgebbare Freiheit der Gewissensentscheidung unterstrichen. Lehmann stand vor einem Dilemma: Sollte er dem Papst folgen und ein Kirchenbeben in Deutschland riskieren? Oder als ungehorsamer Sohn vor dem Heiligen Vater stehen? Lehmann entschied sich für Diplomatie: „Heiliger Vater, was Ihr Vorgänger und Sie 20 Jahre lang von meinen Vorgängern nicht verlangt haben, das verlangen Sie jetzt bitte nicht von mir.“ Der Papst ließ sich davon beeindrucken. Die „Königsteiner Erklärung“ ist bis heute in Kraft.

Lehmann war bemüht um Ausgleich

Diese Episode illustriert Lehmanns große Stärken: Verbindlichkeit, Geistesgegenwart, das Bemühen um Ausgleich. Das machte ihn zum Kronzeugen und Botschafter einer zur Pluralität fähigen Kirche – nach innen wie nach außen. „Sie nutzen Ihre bischöfliche Autorität nicht, um die Theologie in die Schranken zu weisen, sondern um ihr ein Forum zu geben. Erst lernen, dann lehren – das ist Ihre Devise: mit einem großen Herzen und einem klaren Kopf“, attestierte ihm der Theologe Thomas Söding 2016.

Als Lehmann 2009 zusammen mit dem Orientalisten Navid Kermani den Hessischen Kulturpreis verliehen bekommen sollte, lehnte Lehmann zunächst ab. Seine Begründung, Kermani habe in einem Essay über ein Gemälde des italienischen Barock-Künstlers Guido Reni (1575 bis 1642) das Kreuz als christliches Zentralsymbol verunglimpft, war offenkundig ein komplettes Missverständnis und löste neben dem interreligiösen Eklat ein Rätselraten aus, wie Lehmann ein solcher Faux-pas habe passieren können. Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass der Kardinal seinen Gegnern im kirchenpolitischen Flügelstreit keinen Grund liefern wollte, ihn wegen angeblich mangelnder Standfestigkeit oder als nur laxen Verteidiger des christlichen Glaubens und der katholischen Kirche zu attackieren. Nun wäre Lehmann aber nicht Lehmann gewesen, hätte er sich Kermanis Text nicht noch einmal in Ruhe vorgenommen und mit dem Autor ein klärendes Gespräch geführt. An dessen Ende revidierte er seine Entscheidung und nahm den Preis gemeinsam mit Kermani an. Dieser erinnert sich eines späteren „respektvollen, geradezu freundschaftlichen Briefes“ von Lehmann – gleichsam Entschuldigung und Friedensschluss des einen Intellektuellen und religiösen Denkers mit dem anderen.

Klarer Kopf in schweren Krisen

Mit großem Herzen und klarem Kopf manövrierte Lehmann die deutsche Kirche auch durch ihre schwerste Krise vor der Jahrtausendwende, den 1999 von Johannes Paul II. erzwungenen Ausstieg aus der staatlichen Schwangerenkonfliktberatung. Sie ist mit der Vergabe des umstrittenen Beratungsscheins als Voraussetzung einer straffreien Abtreibung verbunden. Der Papst sah in dieser Praxis eine Verdunkelung des kirchlichen Zeugnisses für das ungeborene Leben. Obwohl Lehmann entschieden für den Verbleib im staatlichen System gestritten hatte, zeigte er sich am Ende loyal gegenüber dem Papst, setzte dessen Order um und hielt dennoch die widerstreitenden Lager in der deutschen Kirche zusammen. Dass selbsternannte Lebensschützer ihn zum Teil unflätig attackierten und in den Kardinälen Joseph Ratzinger in Rom und Joachim Meisner in Köln dafür sogar auf weitreichenden ideologischen Rückhalt setzen durften, hat Lehmann geschmerzt und erbittert.

Immerhin erkannte Johannes Paul II., was er an Lehmann hatte. Nachdem er ihn im Januar 2001 bei den Kardinalsernennungen zum wiederholten Male übergangen und damit nach durchgängiger Lesart brüskiert hatte, folgte zwei Wochen später völlig überraschend eine Nachnominierung. Insider vermuten, dass polnische Bischöfe bei ihrem Landsmann Karol Wojtyla in Rom interveniert und ihn gedrängt hatten, dem Mitbruder aus Mainz doch endlich die verdiente Ehrung zuteil werden zu lassen. Für Lehmann selbst war sie – obwohl er den Eindruck stets zu vermeiden suchte – Anerkennung und Genugtuung, zumal er nun endlich auf einer Hierarchiestufe mit denen stand, die ihn in ihrem Kardinalspurpur zuvor gern seine „mindere Stellung“ als einfacher Bischof hatten spüren lassen.

Lehmann macht sich für den heutigen Papst Franziskus stark

Zweimal war Lehmann als Kardinal an Papstwahlen beteiligt, zweimal machte er sich für den Argentinier Jorge Mario Bergoglio als Vertreter des „liberalen Flügels“ im Kardinalskollegium stark. Beim ersten Mal, 2005, entschied sich eine Mehrheit noch für Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI. Nach dessen Rücktritt 2013 aber ging der von Lehmann favorisierte Kandidat im zweiten Anlauf als Papst Franziskus aus dem Konklave hervor.

2008 zog sich Lehmann aus gesundheitlichen Gründen vom Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz zurück, 2016 wurde er mit Vollendung des 80. Lebensjahrs von Papst Franziskus als Bischof von Mainz emeritiert. Sein letztes Lebensjahrzehnt war zum einen überschattet von Kirchenkrisen wie dem Missbrauchsskandal, zum anderen durch eine Reihe schwerer Erkrankungen. Lehmann tat sich schwer damit, loszulassen. Und er haderte damit, dass in seiner Kirche unentwegt Debatten geführt werden, zu denen doch alles Entscheidende längst gesagt ist – nicht zuletzt von ihm.

Am 11. März 2018 ist Kardinal Karl Lehmann im Alter von 81 Jahren im Mainzer Bischofshaus gestorben.