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Kongo Kongo: In Kinshasa leben über 20 000 Straßenkinder

Von Ulrike Koltermann 04.05.2006, 09:47
Eine Gruppe von Mädchen reinigt den Schlafsaal ihres Heimes für ehemalige Straßenkinder in Kinshasa. (Foto: dpa)
Eine Gruppe von Mädchen reinigt den Schlafsaal ihres Heimes für ehemalige Straßenkinder in Kinshasa. (Foto: dpa) dpa

Kinshasa/dpa. - Straßenkinder gab es auch früher, als Kongo noch Zairehieß und Mobuto Sese Seko an der Macht war. Ihre enorme Zahl heuteist eine Folge des jahrelangen Bürgerkrieges, von dem Kinshasa sichnur langsam erholt. Viele Kinder leben auf der Straße von Bettelei,weil ihre Eltern sie nicht ernähren können. Manche Familien werfenihren Kindern Hexerei vor und vertreiben sie von zu Hause.

Die Straßen von Kinshasa sind ein gefährlicher Ort, nicht nur fürKinder. In wilder Anarchie drängen sich Fahrzeuge durch den Verkehr,die in Europa schon vor Jahrzehnten ausgemustert wurden. Kleinbussesind grotesk mit Waren und Menschen überladen. Manchen fehlen dieWindschutzscheiben. Passagiere stehen auf der hinteren Stoßstange undhalten sich am Dachgepäckträger fest, wenn der Bus durch die tiefenSchlaglöcher rumpelt. Verkehrspolizisten mit gelben Blechhelmenstehen auf Podesten, die wie Nescafé-Dosen bemalt sind. Sie trillernmit ihren Pfeifen machtlos gegen das Chaos an.

Straßenkinder lungern meist an Kreuzungen oder vor teurenRestaurants herum. Ihre T-Shirts sind so abgetragen und dreckig, dassdie ursprüngliche Farbe kaum zu erkennen ist. Manche versuchen,Autofahrern Telefonkarten oder kleine Plastiktüten mit Wasser zuverkaufen. Andere verlangen «Parkgebühren» von Restaurantbesuchern.Wenn sie mit der Ausbeute nicht zufrieden sind, setzen sie sich zumehreren auf die Motorhaube und bringen das Auto zum Schaukeln.

Die 13 Jahre alte Vanessa hat ihre Zeit als Straßenkind schon einpaar Jahre hinter sich. Sie hatte beide Eltern verloren, als sie nochklein war. Die Familie einer Tante nahm sie auf, der kongolesischenTradition entsprechend. Doch ihre neue Familie hatte selbst kaumgenug zum Überleben und machte Vanessa bald zum Sündenbock. «MeineTante sagte, ich sei ein "Hexenkind", und ich sei Schuld am Todmeiner Eltern gewesen», erzählt das Mädchen. «Sie hat mich zu einemPropheten gebracht, der mir die bösen Geister austreiben sollte.»

Zusammen mit anderen Kindern wurde sie in einen Raum gesperrt undbekam mehrere Tage lang nichts zu essen. «Wir wurden geschlagen undbeschimpft, das sollte uns von der Hexerei befreien», sagt sie. EinesNachts gelang ihr die Flucht. Vanessa war acht Jahre alt, als sie zumStraßenkind wurde. «Ich habe im Müll nach Essensresten gesucht undnachts unter dem Vordach eines Ladens geschlafen», sagt sie. Meistenshabe sie sich von Maniokblättern ernährt.

Heute lebt das hübsche Mädchen mit raffinierter Zöpfchenfrisurzusammen mit 30 anderen Mädchen in einem Heim für ehemaligeStraßenkinder. Sie geht zur Schule und träumt davon, Stewardess zuwerden. In dem kleinen Hof herrscht fröhliches Gekreische. Auf einerFeuerstelle köchelt in einem riesigen Aluminiumtopf der Reis für dasAbendessen. Zwei Mädchen flechten ihren Freundinnen kunstvolleKreationen aus vielen Reihen winziger Zöpfchen ins krause Haar. Überihre Zeit auf der Straße spricht Vanessa nur verhalten. Einmal habesie ihre Tante wiedergetroffen, die sie damals der Hexereibezichtigte. «Nein, entschuldigt hat sie sich nicht», sagt sie leise.

Der polnische Missionar Père Zibi kümmert sich seit neun Jahren umStraßenkinder von Kinshasa. Mit einem klapprigen weißen VW-Käferfährt er durch die Stadt und schaut in den Heimen und Zentren fürStraßenkinder nach dem Rechten. Gerade erst hat er die Beerdigungeiner 13-Jährigen organisieren müssen, die an Tuberkulose starb.Jedes Jahr sterben mehrere Kinder. «Sie sind oft schon am Ende ihrerKräfte, wenn sie zu uns kommen», sagt Zibi.

Da die Hilfsorganisation ORPER nicht jedem Kind einen Heimplatzbieten kann, hat sie mehrere offene Zentren eingerichtet. ImStadtviertel Kasa-Vubu haben sich am Nachmittag etwa zwei DutzendJungen in einer solchen Anlaufstelle eingefunden. Dort geht esdeutlich lauter und ruppiger zu als in dem nahe gelegenenMädchenheim. «Hey, gib mal 100 Franc (20 Cent)», schreit einer, dersich Elvis nennt, einem Besucher zu. Seinen «Straßennamen» hat ersich in ungelenker Schrift selbst auf den Unterarmen tätowiert.

Eine Gruppe von Jungen spielt mit einem Fußall, aus dem längstalle Luft entwichen ist. Ein Jugendlicher mit nacktem, muskulösenOberkörper kocht auf einem kleinen Holzkohlefeuer eine Suppe ausFischköpfen und Tomatenmark, ein anderer seift sich gründlich unter=einer Freiluftdusche ein. Zwei Kleinere versuchen, mitFlaschendeckeln eine Plastikperle in ein Ziel zu schnippen.

«Etwa Dreiviertel aller Straßenkinder wurden in ihren Familien zu"Besessenen" erklärt und ausgestoßen», sagt Zibi. Es sei kein neuesPhänomen im Kongo, dass Familienmitglieder zu «Hexen» erklärt undausgestoßen werden. Allerdings habe es früher eher alte, kinderloseFrauen getroffen. Dass es heute vor allem Kinder sind, hat nach ZibisAnsicht oft wirtschaftliche Gründe. Viele Waisenkinder werden vonVerwandten aufgenommen, die kaum wissen, wie sie einen zusätzlichenEsser versorgen sollen. In Kinshasa haben nur sehr wenige eineregelmäßige, bezahlte Arbeit.

Die Hauptschuld für die steigende Anzahl von Straßenkindern gibtZibi den zahlreichen Sekten und Freikirchen. «Sie reden den Menschenein, ihre Kinder seien von bösen Geistern besessen und für alleUnglücksfälle in der Familie verantwortlich», sagt der Missionar inJeans und T-Shirt. «Die Kinder werden zu Sündenböcken gemacht, unddie selbst ernannten Propheten verdienen an den Exorzismen.» Zibi undseine Mitarbeiter haben schon viele Opfer so genannterGeisteraustreibungen aufgenommen.

«Manche von ihnen haben Chilipulver in die Augen gestreutbekommen, andere wurden gezwungen, Öl zu trinken», sagt er mitAbscheu in der Stimme. Vor ein paar Wochen kam ein sechs Jahre alterJunge zu ihm, dessen Oberkörper mit eitrigen Wunden übersät war. SeinStiefvater hatte ihn als «Hexenkind» beschimpft und ihn mit einerbrennenden Kerze misshandelt.

Brutale Gewalt erleben die Straßenkinder nicht nur bei derartigenAustreibungen, sondern auch unter ihresgleichen. Ex-StraßenkindPierre erinnert sich an seine erste Nacht auf der Straße: «Ich wolltein einem abgestellten Taxi schlafen, aber da war schon ein Jungedrin. Er ist sofort aufgewacht und hat mich mit einem Messerbedroht.» Es gibt eine strenge Hierarchie unter Straßenkindern,Neulinge müssen sich oft erniedrigenden Riten aussetzen, bevor sie inder Gruppe akzeptiert werden.

«Einmal haben sie mir eine Nylonschlinge um den Penis gelegt, alsich geschlafen habe, und den Faden irgendwo festgebunden. Plötzlichrief jemand "Polizei", ich bin aufgesprungen, und mir wurde vorSchmerzen schwarz vor den Augen», erzählt Pierre. Einem anderenJungen sei im Schlaf die Haut mit einer Rasierklinge aufgeritztworden.

Nach einem Bericht der Organisation Human Rights Watch sind auchVergewaltigungen unter Straßenkindern weit verbreitet. Die Opfer sindsowohl Mädchen als auch Jungen. Für die Täter ist es ein Mittel, dieeigene Machtstellung zu festigen. Manche Straßenjungen werden zuZuhältern. Sie zwingen Mädchen aus ihrer Gruppe zur Prostitution undnehmen ihnen die Einnahmen ab.

Hilfsorganisationen bemühen sich, Verwandte der Straßenkinderausfindig zu machen und die Kinder wieder in ihre Familien zuintegrieren. Im vergangenen Jahr hat ORPER 157 Kinder zurückbringenkönnen. «Einfach ist das nicht», sagt Zibi. «Wenn die Familie einmaldavon überzeugt war, dass das Kind von bösen Geistern besessen ist,dann lässt sich das nur schwer wieder ändern.»

Vanessas Familie ist mittlerweile bereit, das Mädchen anWochenenden zu Besuch kommen zu lassen. «Manchmal braucht es vielZeit, bis die Verwandten merken, dass das Kind ganz normalheranwächst», sagt Zibi. Auch den Kindern falle es schwer, wiederVertrauen zu den Menschen zu fassen, die sie verstoßen haben. Vanessakann sich jedenfalls nicht vorstellen, wieder ganz bei ihrer Familiezu leben. «Hier im Heim fühle ich mich besser», sagt sie.

Pierre hingegen hat Glück gehabt. Während seiner Zeit im Heim hater jeden Sonntag eine Gastfamilie besucht. Als er 15 wurde und dasHeim verlassen musste, hat sie ihn ganz aufgenommen. «Sie haben michals einen der ihren akzeptiert», sagt er mit Stolz in der Stimme.Jetzt lebt er in einem Steinhaus mit Wellblechdach, besitzt einenalten Computer und einen MP3-Player.

«Es tut mir weh, wenn ich sehe, wie viele Straßenkinder im Elendleben», sagt er. Wenn er ein wenig Geld übrig hat, kauft erMedikamente und verteilt sie an kranke Straßenkinder. Pierre träumtvon einer besseren Zukunft: «Ich wünsche mir, dass uns jemand Geldgibt, damit wir ein Stück Land kaufen können. Dann gründen wir einenBauernhof und leben von dem, was wir selber anbauen, und niemand sollmehr auf der Straße nach Essensresten suchen müssen.»

Ein Mädchen kümmert sich um das Abendessen in einem Heim für ehemalige Straßenkinder in Kinshasa. (Foto: dpa)
Ein Mädchen kümmert sich um das Abendessen in einem Heim für ehemalige Straßenkinder in Kinshasa. (Foto: dpa)
dpa
In einem Heim für ehemalige Straßenkinder in Kinshasa flechten sich Mädchen gegenseitig die Haare. (Foto: dpa)
In einem Heim für ehemalige Straßenkinder in Kinshasa flechten sich Mädchen gegenseitig die Haare. (Foto: dpa)
dpa