Kommentar zum Kirchentag Kirchentag in Berlin: Begegnungen in Berlin zeigen die Weltfremdheit der Kirchen

Es ist Kirchentag, und selbst im Weichbild Berlins, das Events aller Art sonst problemlos aufsaugt wie ein schwarzes Loch, ist das Christentreffen im Jubiläumsjahr der Reformation präsent. Gut, am Freitag mischte sich ins dominante Orange der Kirchentagsschals schon das Borussia-Gelb der zum DFB-Pokalfinale angereisten Dortmund-Fans. Was zeigt: Mit dem ersten Gebot der Bibel („Du sollst keine fremden Götter neben mir haben“) nimmt es die plurale, säkulare Gesellschaft nicht mehr ganz so genau.
Das wahrzunehmen ist wichtig und heilsam für die Veranstalter wie für die Besucher. Sie suchen auf Kirchen- oder Katholikentagen, entgegen der oftmals bedrückenden Auszehrung und Vereinsamung im Gemeinde-Alltag, das Erlebnis von Fülle. Es ist ein gutes Gefühl, wenn die Quelle kirchlicher Gemeinschaft nicht immer bloß tröpfelt, sondern für ein paar Tage kraftvoll strömt – und dass sämtliche Spitzenvertreter des Staates darin baden.
Nur sollte das nicht zur Selbsttäuschung führen. Als prägende Kraft ist das Christentum auf dem Rückzug. Paradoxerweise ist das Gerede von einer christlichen Leitkultur das beste Beispiel dafür. Es vereinnahmt und reduziert die christliche Botschaft auf bestimmte Moralbegriffe und äußerliche Formen. Auf die Feststellung aber, dass Barmherzigkeit die alles überragende christliche Tugend sei, winken viele Leitkultur-Protagonisten dann müde lächelnd ab.
Plattitüden sind alarmierend
In Wahrheit gilt für das gewaltige öffentliche Interesse am Berliner Kirchentag die Erfahrung: Die Schatten werden umso länger, je weiter die Sonne sinkt. Oftmals verhindern Geld, Gewohnheit und der Wunsch zu gefallen eine ehrliche Standortbestimmung der Kirchen. Sie kommen mit der Erfüllung ihres Anspruchs an sich selber kaum noch hinterher. „Chill down, Gott sieht dich“, so hat Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au das diesjährige Kirchentagsmotto zu übersetzen versucht. Chill down, komm mal runter – dass sich die Vergegenwärtigung der christlichen Botschaft auf solche Plattitüden reduziert, ist alarmierend.
Tatsächlich wird in der Begegnung mit der Welt gerade in einer gern als „entchristlicht“ bezeichneten Stadt wie Berlin die Weltfremdheit der Kirchen deutlich. Dazu passt ein Bonmot, das nach Art der Sponti-Sprüche aus den 70er Jahren die Aufforderung von Papst Franziskus karikiert, die Kirche solle „an die Ränder“ gehen: An den Rändern der Kirche ist mitten in der Gesellschaft.
Das stimmt – und muss nicht komplett despektierlich verstanden werden. Schließlich sollte die Kirche ja ein Stück weit Kontrast sein, ein Störfaktor im politischen und gesellschaftlichen Mainstream. Hierfür gilt der klassische Satz Jesu im Markus-Evangelium: „Bei euch aber soll es anders sein“ (Kapitel 10, Vers 43). Das aber zu praktizieren und zu kommunizieren, ist schwer genug, und gerade mit der Übersetzungsarbeit hapert es. So laufen viele gut gemeinte Einladungen, sich doch „einfach mal auf Gott und den Glauben einzulassen“ oder sich – mit Martin Luther gesprochen – ganz und gar der rettenden Gnade Gottes anzuvertrauen, hilflos ins Leere, wenn nicht einmal ansatzweise erkennbar wird, wie das denn gehen soll. Wie bekommen die Menschen es „mit Gott zu tun“? Wo begegnen sie ihm? Woran merken sie, dass er sie sieht? Und wie verändert sich dadurch das eigene Leben?
Demut täte Kirchenvertretern gut
Es war durchaus beeindruckend, was Barack Obama als unbestrittener Stargast des Kirchentags, aber auch Kanzlerin Angela Merkel dazu aus ihrer Sicht beisteuerten: sie den Hinweis auf eine Fehlerkultur, eine Spiritualität des Scheiterns und Neubeginnens; er den geistlichen Imperativ von der Gleichheit aller Menschen. „In den Augen Gottes verdient das Kind auf der anderen Seite der Grenze nicht weniger Liebe und Mitgefühl als mein eigenes Kind“, sagte Obama im Hinblick auf die Flüchtlinge.
Obamas Rede von der Grenze spielte nicht nur auf Donald Trumps monströsen Abschottungsplan der Befestigungsanlage zwischen den USA und Mexiko an. Man kann das Wort von der Grenze umstandslos auch auf das Weltbild der AfD beziehen. Eine Vertreterin der Partei durfte auf dem Kirchentag erläutern, was ihrer Meinung nach „Christen in der AfD“ zu suchen haben. Ihr die Chance dafür zu geben, war richtig. Denn selbst wenn Rassismus, dumpfe Islam-Phobie und nationalistische Selbstüberhebung tatsächlich die viel strapazierte rote Linie markieren, müssen die Kirchen sich doch eingestehen, dass dieses Gift sehr wohl in die eigenen Reihen einsickert und wirkt.
Auch hier gilt: Keine Behauptung, auch nicht die Selbstbehauptung, schafft allein von sich aus Realität. Nähmen die Kirchentagsbesucher diese Erkenntnis in aller Nüchternheit und Demut mit in ihren Alltag und die Kirchenoberen mit in ihr Auftreten, wäre schon viel gewonnen.