1. MZ.de
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. Iris Gleicke: Iris Gleicke: Was macht eine Ostbeauftragte heutzutage eigentlich?

Iris Gleicke Iris Gleicke: Was macht eine Ostbeauftragte heutzutage eigentlich?

Von Markus Decker 21.03.2017, 18:28
Eine Frau trägt Rot: Iris Gleicke, 52, kommt aus Südthüringen und ist die Ostbeauftragte der Bundesregierung.
Eine Frau trägt Rot: Iris Gleicke, 52, kommt aus Südthüringen und ist die Ostbeauftragte der Bundesregierung. photothek

Anklam - Den prägnantesten Satz ihres politischen Lebens hat Iris Gleicke über ihren Vorgänger gesagt. Und in gewisser Weise war er auch programmatisch, dieser Satz. „Christoph Bergner ist genauso, wie der Westen sich den Ossi wünscht: fleißig, brav, bescheiden und kein bisschen aufmüpfig“, befand die Sozialdemokratin aus Südthüringen. Gleicke war in jenem Sommer 2012 Bergners Opponentin als Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion für ostdeutsche Fragen. Und so wie Bergner, der Christdemokrat aus Sachsen-Anhalt, damals Ostbeauftragter der Bundesregierung , wollte sie nicht sein. Dann lieber keck und selbstbewusst.

Was Iris Gleicke, heute 52 Jahre alt, nicht ahnen konnte: dass sie Bergner zwei Jahre später beerben würde als Ostbeauftragte. Obwohl sie es besser gefunden hätte, wenn ein gesamtdeutscher Beauftragter für strukturschwache Regionen benannt worden wäre. Heute sagt Gleicke: dass sie ihr Amt in dieser Form gar nicht gewollt habe, das sei falsch. Die Bemerkung sei nur auf den mangelnden Erfolg ihres Vorgängers gemünzt gewesen – auf Bergner eben.

Heiße Kartoffel

Die SPD-Politikerin Gleicke ist durch die Wendewirren in die Politik gespült worden und sitzt seit 1990 im Bundestag. Seit drei Jahren ist sie die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, wie es offiziell heißt. Der erste Beauftragte war Johannes Ludewig, ein westdeutscher CDU-Mann mit ähnlich patriarchalischem Blick auf den Osten wie sein Chef Helmut Kohl. Es folgte Rolf Schwanitz von der SPD, der so farblos war, dass die Thüringer Allgemeine einmal einen weißen Fleck abdruckte, wo ein Interview mit Schwanitz hatte stehen sollen.

Nach ihm kam der Stasi-belastete Manfred Stolpe. Dieser wurde vom ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee abgelöst, der den beleidigenden Spitznamen „Flachwasser“ ertragen musste. Sie gehörten der SPD an. Nächster Ostbeauftragter war Thomas de Maizière, der in Bonn zur Welt kam, nach der Wende aber in den Osten ging und in dessen viel zu große Fußstapfen der CDU-Parteifreund Bergner dann trat. Unterdessen wechselte die Zuständigkeit für das Amt des Ostbeauftragten vom Wirtschaftsministerium ins Kanzleramt, vom Kanzleramt ins Verkehrsministerium, vom Verkehrsministerium ins Innenministerium und von dort wieder zurück ins Wirtschaftsministerium. Als wäre der Osten eine heiße Kartoffel.

Iris Gleicke ist die erste Frau auf dem Posten, sie hat Erfahrung als stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Staatssekretärin und als Parlamentarische Geschäftsführerin. Dass sie „brav, bescheiden und kein bisschen aufmüpfig“ sei, lässt sich nicht behaupten. Gleicke, die gern leuchtend rote Kostüme oder Hosenanzüge trägt, geht Konflikten nicht aus dem Weg. Sie mag es direkt.

Was sich gut beobachten lässt an diesem Tag, an dem ein Ausflug von Berlin nach Vorpommern auf dem Programm steht; eine Betriebsbesichtigung und ein Diskussionsabend in Anklam warten. Der Morgen beginnt allerdings gemächlich. Iris Gleicke hat auf der Rückbank ihres Dienstwagens Platz genommen, neben ihr sitzt Martin Müller, ihr persönlicher Referent. Gleicke, die gelernte Bauzeichnerin aus Schleusingen blättert in den Unterlagen, in denen steht, was sie in Anklam, der 13.000-Einwohner-Stadt, erwartet.

Das Positive würdigen, für das Negative Akzeptanz schaffen

Am Autofenster ziehen Plattenbauten vorbei und unsanierte Ost-Berliner Altbauten. Schließlich die Autobahn. Nach einigem Schweigen kommen wir auf die Themen, die Iris Gleicke betreuen muss. Die Wirtschaftsförderung spielt ebenso eine Rolle wie die Sozialpolitik, Bildung und die Bundeswehr. Auch im 27. Jahr der Vereinigung gibt es fast überall noch spezifische Ostbezüge. Und dann ist da das heikle Gelände der DDR-Aufarbeitung.

„Wir sind 1989 nicht vom Baum gefallen“, sagt Iris Gleicke. „Sonst hätten wir keine friedliche Revolution machen können.“ Diese Feststellung ist ein Teil ihrer typischen Dialektik. „Meine Aufgabe ist es aber nicht, rosa-rote Brillen zu verteilen, damit sich alle wohlfühlen. Sonst hätte ich meinen Job verfehlt.“ Das ist der andere Teil. Die Ostbeauftragte versucht, das Positive zu würdigen und so Akzeptanz zu schaffen für die Erwähnung des Negativen.

Dazu gehört Streit. Und den gab es reichlich. In Gleickes erstem Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit war zu lesen: „Der ganz großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ging es darum, ein anständiges Leben zu führen.“ Das passte einigen CDU-Leuten nicht, weil sie die Ansicht vertraten, in der sozialistischen DDR habe es gar keine Bürger geben können. Ein Jahr später forderte das Finanzministerium, die nach 1990 teilweise sehr umstrittene Arbeit der Treuhandanstalt durchweg kritiklos zu beschreiben. Iris Gleicke stellte klar, dass diese Anstalt auch für Marktbereinigungen und Zerschlagungen stehe und betonte: „Dass das bis heute nachwirkt, halte ich für einen Nachteil.“

Im letzten Bericht wies sie auf den im Osten besonders verbreiteten Rechtsextremismus hin, der „eine ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder“ sei. Kanzleramt und Innenministerium sagten: nein. Ost-Ministerpräsidenten bestritten gar die Existenz des Problems, das allenfalls ein gesamtdeutsches sei.

Bald darauf, sagt Gleicke irgendwann auf der Fahrt jenseits der Uckermark, habe sie sich bestätigt gesehen – als sich nämlich Kanzlerin Angela Merkel und der damalige Bundespräsident Joachim Gauck bei den Feiern zur deutschen Einheit in Dresden von Pegida-Anhängern hätten beleidigen lassen müssen. Ohnehin findet Gleicke: „Diskussionen anzustoßen, ist auch eine Aufgabe der Ostbeauftragten.“

Zwanzig Kilometer vor Anklam fährt der Fahrer rechts ran. Frau Gleicke und Herr Müller steigen aus. Die Ostdeutsche und der Westdeutsche rauchen.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, wie Iris Gleicke sich unter Männern behauptet. 

In der Nähe von Usedom wartet das wahre Leben. Im Bürogebäude der Anklam Extrakt GmbH, wo Iris Gleicke und ihre Begleiter zehn Minuten zu früh eintreffen, laufen Angestellte aufgeregt durcheinander. Irgendwann ist der Geschäftsführer Bernhard Kernen da, ein alerter Schweizer mit dem Titel Managing Director – und da ist auch noch sein Kollege Klaus Schekahn, ein älterer, stattlicher Mann, der aus Schleswig-Holstein stammt. Die dritte Geschäftsführerin namens Claudia Pühn aus Franken ist nicht da, sie hat anderweitig zu tun. So ist Iris Gleicke plötzlich von insgesamt neun Männern umgeben, lokaler Honoratioren inklusive – was in der Wirtschaft ebenso typisch ist wie die Tatsache, dass ostdeutsche Unternehmen von Westdeutschen oder Ausländern geführt werden.

Klaus Schekahn schildert, dass und wie sie hier Extrakte aus Beeren, Wurzeln, ja sogar Holzspänen für Arzneimittel oder pflanzliche Produkte herstellen und spricht von einem Fünfjahresplan zur Auslastung der Kapazitäten. Anschließend führt er die Gäste in Kitteln und Kunststoffmützen durch die Produktionsräume. Man spricht über die komplizierten Anträge auf Fördermittel. Noch viel wichtiger ist die Frage: Wie gewinnt man hier, im nordöstlichsten Zipfel der Republik, Arbeitskräfte?

Zwar liegt die Arbeitslosenquote immer noch bei 12,4 Prozent, während sie in den Neunzigerjahren 30 Prozent betrug. Doch die Manager klagen. Zunächst habe man es über die Bundesagentur für Arbeit versucht. Das sei schiefgegangen, weil Bewerber schlecht qualifiziert und motiviert gewesen seien. Nun schalten sie Anzeigen in regionalen Medien – aber auch das mit wenig Erfolg.

Der örtliche Arbeitsamtschef weist auf das demografische Problem hin: Die Zahl derer, die in Vorpommern in Rente gingen, sei zweieinhalb Mal so hoch wie die Zahl derer, die von der Schule kämen. Iris Gleicke sekundiert: „Und die Situation wird nicht besser.“ Bald werde in den neuen Ländern ein Drittel der Bevölkerung über sechzig sein. Hinterher wird sie sagen, dass nur abgestimmte Lösungen helfen können. Die Wirtschaft müsse mit Schulen kooperieren. Bewerber bräuchten ein gutes Umfeld für sich und ihre Familien. Zum Abschied tut die Ostbeauftragte kund, es sei unheimlich spannend gewesen, und fährt fort: „Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“ Dabei war sie eingeladen.

Ein relativ großes Aber

Da der Besuch länger gedauert hat, muss das geplante Abendessen warten. Gleickes Fahrer lenkt den Wagen vom Stadtrand ins Zentrum – zur Sparkasse Vorpommern in Anklam. Dort will die Friedrich-Ebert-Stiftung wissen: „Gleiche Löhne, gleiche Renten, gleiche Chancen – wie steht es um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse?“ Die Mehrheit der vielleicht 60 Zuhörer ist im Rentenalter.

Iris Gleicke beginnt ihren Vortrag mit dem bekannten Einerseits-Andererseits. Einerseits habe man in diesen 27 Jahren „unheimlich viel erreicht. Den Rest schaffen wir auch noch.“ Das Bruttoinlandsprodukt sei von 1991 bis 2017 von 31 auf 67 Prozent des Westniveaus gestiegen. Andererseits gebe es da ein „relativ großes Aber“. Denn seit dem Jahr 2000 hole der Osten im Schnitt bloß 0,5 Prozentpunkte auf.

In manchen Jahren hole er auch gar nicht mehr auf. Im Kern sei der Osten darum fast durchweg strukturschwach geblieben. Schließlich kommt Gleicke auf die Rente zu sprechen. Einerseits gehe es den Rentnern gut, sagt sie – und den Ost-Rentnern gehe es derzeit sogar besser als den West-Rentnern. Andererseits werde das Rentenrecht erst bis 2025 angeglichen sein. „Ich hätte mir eine schnellere Angleichung gewünscht. Aber ich trage diesen Kompromiss mit.“

Die Besucherin aus Berlin schont das Provinz-Auditorium nicht. Sie legt ihm das Rentenrecht haarklein auseinander. Das mit den Rentenpunkten und der Höherwertung der Löhne – all das, was auch in Berlin viele missverstehen. Die Nachfragen beweisen, dass die Zuhörer wirklich nicht mitgekommen sind. Niemand kann indes behaupten, Gleicke habe nicht die Wahrheit gesagt.

Im Gegenteil, sie erläutert, dass es nach der Angleichung des Rentenrechts auch ostdeutsche Verlierer geben werde. Und als sich ein Mann mit polnischem Akzent erhebt und beklagt, die Ostdeutschen seien weiterhin Bürger zweiter Klasse, hält Gleicke energisch dagegen: „Wir sind nicht Bürger zweiter Klasse.“ Aber sie könne „die DDR nicht nachträglich schöner machen“, als sie gewesen sei. Auch wenn Gleicke für ostdeutsches Selbstbewusstsein plädiert: Für Ostalgie ist sie nicht zu haben.

Beschränkte Mittel

Faktisch sind die Mittel so einer Ostbeauftragten beschränkt – von überschaubaren Fördermitteln einmal abgesehen. 2019 läuft der Solidarpakt II über immerhin 156 Milliarden Euro aus. Was danach kommt, bestimmen andere – die Kanzlerin, der Finanzminister, die Ministerpräsidenten. Iris Gleicke hat viele Studien in Auftrag gegeben, nicht zuletzt, um die Aufmerksamkeit für das Ost-West-Gefälle wachzuhalten. So ließ sie einen „Atlas der Industrialisierung der neuen Bundesländer“ anfertigen sowie eine Analyse über Zwangsarbeit in der DDR. Untersuchungen über die Wahrnehmung der Treuhandanstalt und über Rechtsextremismus im Osten sind noch in Arbeit.

Im Herbst ist Schluss. Nicht allein mit dem Ostbeauftragten-Leben, sondern mit der Bundespolitik überhaupt. „Ich bin in keiner Weise amtsmüde“, sagt Iris Gleicke im Auto. „Aber ich will noch mal etwas anderes machen.“ Und mit Ende 50 sei es vielleicht zu spät dafür. „Ein Ostbeauftragter wird auch nach 2017 benötigt“, sagt sie dann noch. „Der Osten braucht weiter eine starke Stimme.“

Iris Gleickes Nachfolger als Bundestags-Kandidat ist übrigens 23 Jahr alt und kennt die DDR nur aus Erzählungen. Ostbeauftragter wird er gewiss nicht mehr. (mz)