Interview über aktive Sterbehilfe Interview über aktive Sterbehilfe: "Niemand soll am Leben bleiben müssen"
Anne und Nikolaus Schneider haben sich zum Interview nebeneinander aufs Sofa in ihrer Berliner Wohnung gesetzt. Wenn sie von ihrer Krebskrankheit erzählt, von Chemotherapie und Antikörper-Behandlung, schaut er sie lang von der Seite an. Immer wieder legen sie im Gespräch eine Hand in die des anderen. Es habe Zeiten gegeben, sagt Anne Schneider, da sei es ihr richtig dreckig gegangen. Heilfroh sei sie da gewesen, dass der „Nickel“, ihr Mann, zu Hause war.
Herr Schneider, Sie haben vor knapp einem Jahr den EKD-Ratsvorsitz niedergelegt, weil Sie sich um Ihre Frau kümmern wollten. Sie, Frau Schneider, haben darüber geredet, in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Das alles klang danach, dass Ihnen nur noch wenig gemeinsame Zeit bleiben würde.
Nikolaus Schneider: Darauf waren wir auch eingestellt. Aber das hat sich sehr verändert. Zum Glück.
Anne Schneider: Die Ärzte sagen, die aggressiven Krebszellen seien gestoppt. Das ist keine Heilung, aber ein Stillstand. Und die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten fünf Jahren erneut zu erkranken, liege bei fünf bis zehn Prozent.
Also auch nicht schlechter als bei einem Gesunden in Ihrem Alter?
A. Schneider: Genau. Ich merke, dass ich bei den regelmäßigen Untersuchungen inzwischen gar nicht mehr von einem neuen Krebsbefund ausgehe. Das war vor drei Monaten noch anders.
N. Schneider: Zwar wissen wir aus der Krankheitsgeschichte unserer Tochter Meike, dass Statistiken keine „Lebensversicherungen“ sind. Aber immerhin trauen wir uns jetzt wieder, Pläne zu machen, die über ein halbes Jahr hinausgehen.
Grenzenloser Glaube an Gott gibt Halt
Ein neu geschenktes Leben?
A. Schneider: Eine Zugabe, würde ich sagen.
Hatte Gott dabei seine Hand im Spiel?
N. Schneider: Gott ist immer ein Gott des Lebens, und alles Leben ist uns von Gott geschenkt. Die Frage ist nur, wo: hier auf Erden oder in seinem Reich. Aber ich gebe zu: Ich bin froh, dass Gott uns jetzt auf dieser Welt offenbar doch noch mehr Lebenszeit zugesteht, als wir gedacht hatten.
A. Schneider: Ich kann das nur widersprüchlich ausdrücken: Ich glaube, dass Gott tatsächlich jedes Haar auf meinem Haupt gezählt hat, wie es in der Bibel heißt. Das bedeutet, er kümmert sich um mich ganz persönlich und will nur das Beste für mich. Wenn mich aber nun der Krebs aufgefressen hätte, hätte ich nicht gesagt, „jetzt hat Gott mich fallen gelassen“, genauso wenig, wie er unsere Tochter Meike fallen gelassen hat. Das ist ein Stück Glaubens-Schizophrenie, ich weiß.
Diese „Schizophrenie“ könnten Sie vermeiden, indem Sie von der Existenz Gottes absähen oder zumindest annähmen, dass er nicht direkt in unser Leben eingreift.
N.Schneider: Unsere mittlere Tochter hat nach Meikes Tod so reagiert. „Jetzt ist Schluss mit dem Beten für meine persönlichen Belange“, hat sie gesagt. Aber das ist zehn Jahre her. Inzwischen hat sie selbst ein Kind bekommen, und natürlich empfiehlt sie es dem Schutz Gottes. Wenn man den Glauben an Gott als Beziehung versteht, dann kann es auch gar nicht anders sein, als dass wir mit ihm in Kontakt zu bleiben versuchen, auch wenn wir wissen, dass sich eine zwischenmenschliche Beziehung wie die zwischen Eltern und Kindern nicht 1:1 auf das Verhältnis Gott-Mensch übertragen lässt.
A. Schneider: Wenn Eltern ihren Kindern einen Wunsch abschlagen, sollten sie das möglichst vernünftig begründen. Warum unsere Tochter Meike trotz ihres und unseres inständigen Betens sterben musste, dafür habe ich von Gott bis heute keine vernünftige Begründung bekommen. Trotzdem entgegne ich den vielen Menschen, die mir jetzt sagen, „wie schön, dass es dir so gut geht, dann hat unser Beten ja genützt“: Es hätte auch genützt, wenn ich gestorben wäre. Weil ich mich in meiner Krankheit durch das Gebet begleitet und getragen gewusst habe. Jedenfalls hasse ich es, wenn man jemandem, dem Leid widerfährt, suggeriert: Dann hast du wohl nicht oft genug gebetet oder nicht intensiv genug geglaubt.
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Heilung war ein großes Geschenk
Die Bibel selbst legt diesen Schluss an manchen Stellen nahe.
A. Schneider: Deswegen kann ich diese Stellen im Neuen Testament ja auch nicht leiden. Wenn Jesus nach einer Wunderheilung sagt, „geh, dein Glaube hat dir geholfen!“, dann ist das für mich eher anstößig als hilfreich.
Haben Sie den Verlauf Ihrer Krankheit nicht selber auch als ein kleines Wunder empfunden?
A. Schneider: Nicht unbedingt als Wunder, aber als großes Geschenk. Die behandelnden Ärzte waren sehr zurückhaltend mit ihren Aussagen über den Krankheitsverlauf. Es hat keiner gesagt, „richten Sie sich aufs Sterben ein“. Aber geben Sie mal die Diagnose „Inflammatorischer Brustkrebs“ bei Google ein! Da stoßen Sie ziemlich schnell auf eine prognostizierte Lebenserwartung von nur noch Wochen oder Monaten.
N. Schneider: Wir haben uns die Google-Recherche übrigens verkniffen.
A. Schneider: Aber eine unserer Töchter hat gegoogelt. Und meine Schwester auch. Mir fiel auf, dass sie danach jeden Tag angerufen haben, wie es mir gehe. Mir selber dagegen ist die Dramatik meiner Lage in einem informellen Gespräch mit einem Arzt bewusst geworden, der sich als ein erklärter Gegner des ärztlich assistierten Suizids positioniert hatte. Als der mich nach meiner Diagnose fragte und ich sie ihm erläuterte, wurde er ganz still und erwiderte, dann könne er schon verstehen, dass ich über Sterbehilfe nachdächte. Da habe ich tatsächlich angefangen, mein Begräbnis vorzubereiten. Ich habe einen befreundeten Pfarrer angerufen, ob er mich beerdigt. Und dann haben wir beide am Telefon geheult.
Auch Ihre Überlegung, zum Sterben in die Schweiz zu fahren, war demnach weit mehr als ein Planspiel?
A. Schneider: Also, wenn ich ganz ehrlich bin, ist „in die Schweiz fahren“ für mich nur eine Art Code-Wort, eine Chiffre. Käme es hart auf hart, hätte ich hier in Deutschland befreundete Ärzte, die mir den Cocktail besorgen würden, so dass ich zu Hause sterben könnte. Aber ich wünschte mir, dass der Bundestag zu einer Regelung kommt, die das allen Menschen ermöglicht.
Und Ihr Wunsch an das Parlament, Herr Schneider?
N. Schneider: Ich möchte eine Qualität der Sterbebegleitung, die den Ruf nach Sterbehilfe überflüssig macht und die doch den Wunsch des Sterbenden berücksichtigt: Niemand soll am Leben bleiben müssen, der partout nicht mehr leben kann und will.
„Das Sterben ist unser Lebensthema geworden“
Ist das nicht mit anderen Worten das Gleiche, was Ihre Frau sagt?
N. Schneider: Es kommt dem sehr nahe. Aber ich will das nicht formal per Gesetz geregelt und „organisiert“ wissen. Das gehört in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt, Pflegepersonal und Patient.
A. Schneider: Da genau liegt seit Jahren unser Grund-Dissens, Nickel. Ich bin für eine „organisierte“ Form ärztlichen Suizids, damit nicht du oder unsere Töchter diejenigen sind, die das Ganze organisieren müssen.
N. Schneider: Und ich sage, das ist gar nicht nötig. Die Realität in Deutschland lässt in einem liebevollen, vertrauensvollen Verhältnis zwischen Arzt, Patient und Angehörigen schon heute sehr vieles zu.
Aber in einer rechtlichen Grauzone.
A. Schneider: Für mich kommt ein soziales Argument hinzu. Das ist wie früher mit der Abtreibung. Wer genug Geld hat, fährt ins Ausland oder zahlt einem Arzt in Deutschland ein hohes Honorar für das Risiko, das er mit der Sterbehilfe eingeht. Das führt zu Ungerechtigkeit. Deshalb bin ich für einen gesetzlich geregelten Zugang zum assistierten Suizid, der für alle gleich ist …
N. Schneider: … der aber am Ende auch scheinbar „gleichwertig“ neben einer Weiterbehandlung stehen wird. Du weißt, was das für schwer kranke Patienten bedeutet: Zu der Angst, den eigenen Angehörigen zur Last zu fallen, kommt dann noch der soziale Druck hinzu nach dem Motto, „die Ressourcen des Gesundheitssystems sind begrenzt“. So wird das gezielte Töten zu einer Variante ärztlichen Handelns und zu einer normalen gesundheitspolitischen Maßnahme. Eine solche Normalität aber macht unsere Gesellschaft unmenschlich und kalt.
So streiten Sie schon seit Jahren, auch öffentlich. Wie kommt Ihnen das eigentlich vor, dass Sie inzwischen als eine Art Sterbeprofi-Tandem gelten?
A. Schneider: (lacht) Es stimmt schon, das Sterben ist unser Lebensthema geworden. Sicher hat das mit Meikes Tod 2005 zu tun. Wir haben damals gemerkt: Wenn wir es als Christen ernst meinen mit unserem Glauben an die Auferstehung, dann sind wir jetzt besonders gefordert, wo dieser Glaube am schärfsten in Frage gestellt ist.
N. Schneider: Manchmal kommen die Dinge auf seltsame Weise zusammen. Zum Beispiel hatte die EKD entschieden, die Frage nach einer verantwortbaren Sterbehilfe zum Jahres-Thema des Ratsvorsitzenden 2014 zu machen. Da war Annes Krankheit für uns noch gar nicht im Blick. Also: Das Thema hat uns gesucht, und wir haben es gesetzt.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Joachim Gauck, ein Mann der klaren Worte
Joachim Gauck ist ein Mann der klaren Worte
Was bedeutet Ihnen, Herr Schneider, die Ehrung mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland durch den Bundespräsidenten an diesem Donnerstag?
N. Schneider: Ich sehe darin die Anerkennung für mein öffentliches Wirken als Pastor und leitender Geistlicher. Die staatliche Ehrung kann sich natürlich nur auf das gesellschaftliche Wirken beziehen, nicht auf das pastorale. Aber trotzdem kommt darin zum Ausdruck, dass es für den Staat von Belang ist, was die Kirchen tun. Darüber freue ich mich.
Welche Rolle spielt die Person des Präsidenten dabei? Joachim Gauck ist ja nicht zuletzt der Vermieter Ihrer Berliner Wohnung.
N. Schneider: Das spielt nun überhaupt keine Rolle. Wohl aber fühle ich mich diesem Präsidenten besonders nahe, weil ich sein klares Wort und seine Entschiedenheit schätze. Er nimmt Partei, ohne parteiisch zu sein.
Wo vor allem?
A. Schneider: Immer, wenn es um die Menschenrechte geht und um die Freiheit.
N. Schneider: Etliche Male hat Joachim Gauck die Sprache der Regierung befreit aus den Zwängen diplomatischer Rücksicht und politisch-ökonomischer Vorsicht. Er hat mit Blick auf die deutschen Verbrechen an den Herero im Süden Afrikas oder an den Armeniern in der Türkei unmissverständlich von „Völkermord“ gesprochen. Genauso wichtig ist mir seine unnachgiebige, unerbittliche Abgrenzung gegen Rechtsradikalismus, die in manchen Bereichen der Gesellschaft sehr zu wünschen übrig lässt.
Auch in den Kirchen?
N. Schneider: Wie sich Teile der evangelikalen Bewegung mit der politischen Rechten verbinden und dabei die Grenzen zum Extremismus ausfransen lassen, das beunruhigt mich sehr. Wer Verständnis für Hetzparolen gegen Flüchtlinge, ja sogar für Steinewerfer und Brandstifter mit dem verharmlosenden Argument begründet, man müsse „die Sorgen der Menschen ernst nehmen“, der gebraucht eine verhüllende Sprache.
Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz
Was ist die Alternative?
N. Schneider: Der Bundespräsident hat sie am vorigen Sonntag auf ideale Weise formuliert: Die Flüchtlingskrise wird unser Land verändern. Es kommen Probleme und Konflikte auf uns zu. Das muss man nüchtern sagen. Aber die Frage ist: In welchem Ton? Im Ton des Alarmismus? Oder, wie Joachim Gauck sowie, nebenbei bemerkt, auch unsere Kanzlerin, im Ton der Ermutigung und Zuversicht: „Lasst uns anpacken! Wir können das schaffen!“
Gauck hat ja auch Erwartungen und Ansprüche an die Menschen gestellt, die zu uns kommen.
N. Schneider: Zu Recht! Unsere Verfassung und Gesetze müssen für alle gelten. Muslime sollen ihren Glauben leben dürfen wie Christen oder Juden auch. Aber keine Scharia! Keine Diskriminierung von Frauen! Und keine Judenfeindlichkeit! Gerade Letzteres ist mir sehr wichtig, weil ich auf Reisen in mehrheitlich muslimische Länder einen geradezu verstörenden Antisemitismus des Alltags erlebt habe. Da zieht es einem wirklich die Schuhe aus!
Nennen Sie dafür bitte mal ein Beispiel!
A. Schneider: Wir waren in Indonesien unterwegs. Als der Parkplatzwächter mitbekam, dass wir Deutsche sind, sprach er uns an und sagte: „Hitler! Guter Mann!“ In einer Ordinationsfeier unserer indonesischen Partnerkirche hörten drei der 40 angehenden Pastöre auf den Vornamen Hitler. Und warum? Wegen der Verfolgung der Juden. Wir mochten es gar nicht glauben.
N. Schneider: Für ein solches Denken darf es keine Duldung geben, am allerwenigsten in Deutschland. Diese Forderung wissen wir aber bei der Bundeskanzlerin wie auch beim Bundespräsidenten gut aufgehoben.
Wünschen Sie sich für Gauck eine zweite Amtszeit?
N. Schneider: Die Entscheidung liegt allein bei Joachim Gauck. Er muss sehen, ob er sich noch kräftig genug für die gewaltigen Belastungen fühlt, die dieses Amt dem Amtsinhaber abverlangt.
Wenn er im Schloss Bellevue bliebe, hätten Sie zumindest keinen Stress mit Wohnungssuche.
A. Schneider: Das stimmt.