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Internationaler Suchdienst Internationaler Suchdienst in Bad Arolsen: Im Reich der Karteikarten

Von Markus Decker 27.05.2016, 11:51
Ein Mitarbeiter des Internationalen Suchdienstes (ITS) des Roten Kreuzes in Bad Arolsen (Hessen) sortiert  in der Korrespondenz-Ablage Original-Akten ein.
Ein Mitarbeiter des Internationalen Suchdienstes (ITS) des Roten Kreuzes in Bad Arolsen (Hessen) sortiert  in der Korrespondenz-Ablage Original-Akten ein. dpa

Bad Arolsen - Irgendwann steht jeder, der nach Bad Arolsen kommt, in diesem Raum mit Regalen, die doppelt so hoch sind wie ein Mensch und bis unter die Decke reichen. Zieht man eine der Schubladen heraus, sieht man Karteikarten, nichts als Karteikarten.

Auf manchen steht nur ein Name, vielleicht noch das Geburtsdatum. Aus anderen sind Lebenswege ablesbar - in welchem Lager das Opfer war und in welchem Lager es starb. 50 Millionen Karteikarten haben sie beim International Tracing Service (ITS), dem Internationalen Suchdienst. 50 Millionen Karteikarten über die Schicksale von 17,5 Millionen Opfern der Nazi-Herrschaft.

Manchmal führen die Karteikarten mitten ins Leben. So wie kürzlich. Da brachten sie Geschwister zueinander, die von der Existenz des anderen vorher gar nichts wussten: Ursula und Eli. 1947 kam der rumänische Jude Nathan in ein Camp in Baden-Württemberg. Dort verliebte er sich in Ruth, eine nichtjüdische Deutsche. Aus der Beziehung ging Tochter Ursula hervor. 1948 emigrierte Nathan nach Israel. Ruth blieb in Deutschland.

„Er war ihre große Liebe“, sagt Ursula. Nach dem Tod der Mutter begann die Tochter mit der Suche. Sie fand heraus, dass ihr Vater gestorben war. Doch stieß sie zugleich darauf, dass er einen Sohn hatte: Eli. Im September bekam Ursula aus Bad Arolsen die Telefonnummer ihres Halbbruders und rief an. „Das war so ein Moment, den man nie vergisst“, sagt sie.

Wichtig bei Rentenansprüchen

Der Suchdienst, der in den letzten Kriegsjahren auf Initiative der Alliierten und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz entstand, kann Tausende solcher Geschichten erzählen. Allein 2015 fanden 30 Familienzusammenführungen statt. Nur werden es weniger. Und wenn der Dienst auf Dauer eine Existenzberechtigung haben soll, dann müssen sie sich in Bad Arolsen unter Leitung der seit Januar amtierenden Direktorin Floriane Hohenberg neu erfinden.

50 Millionen Karteikarten besitzt der International Tracing Service (ITS), der Internationale Suchdienst, der im hessischen Bad Arolsen sitzt. In der Zentralen Namenkartei befinden sich Informationen zu 17,5 Millionen Menschen. Die Aufgaben des ITS, der früher als Rot-Kreuz-Suchdienst bekannt war: die Klärung des Schicksals von Verfolgten des NS-Regimes und die Suche nach Familienangehörigen, die Erteilung von Auskünften, die Konservierung und Erschließung von Dokumenten. Im Jahr 2015 erreichten den ITS immer noch 12.000 Anfragen. Es gab 30 Familienzusammenführungen. (mad)

„Der ITS ist weiterhin wichtig, weil immer noch vermisste Menschen gesucht werden“, sagt die 46-Jährige, eine ebenso elegante wie polyglotte Französin. „Außerdem wird er immer noch gebraucht von Menschen, die Rentenansprüche geltend machen wollen.“ Heute sei der Suchdienst aber nicht zuletzt für Forscher sehr wichtig, denn er habe „einen Bestand an Dokumenten, der absolut unvergleichlich“ sei.

Bildung und Forschung

Ja, in Bad Arolsen wollen sie ein wenig weg von den Ursprüngen. Der Neubau eines Archivgebäudes für sechs Millionen Euro ist beschlossene Sache. Akademisches Personal soll die 260-köpfige Belegschaft auffrischen, die bisher vielfach aus einfachen Angestellten besteht, manche ohne Abitur.

Als 1943 die Macht des Nationalsozialismus zu bröckeln begann, da gründeten sie ein Zentrales Suchbüro - weit entfernt von Bad Arolsen, in London. Es begann mit der Recherche von Verschollenen. Dass die Wahl auf Bad Arolsen fiel, die 16 000-Einwohner-Stadt nördlich von Kassel, lag daran, dass es in der Mitte der vier Besatzungszonen lag. Zu den Akten aus dem Nationalsozialismus gesellten sich Dokumente aus der Nachkriegszeit. Es gibt Geburtsurkunden, Todesurkunden, Gerichtsakten, Passagierlisten, Akten über Vermisste. „Die ganze Sammlung ist ziemlich heterogen“, sagt Floriane Hohenberg. Von den Unterlagen aus den Konzentrationslagern sind die aus Buchenwald und Dachau komplett erhalten. In den Anfangsjahren ging es neben den Informationen über Verschollene um Entschädigungen und Renten vor allem für Zwangsarbeiter. Finanziert wird der Suchdienst aus dem Etat von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), da all das Unheil bekanntlich auf das Konto der Deutschen geht.

Die Zahl der Anfragen von Überlebenden und Angehörigen betrug 2015 über 10.000 - bei 2.000 Anfragen von Historikern, Gedenkstätten und Universitäten, also aus dem Bereich der Forschung.

Einer der für die Forschung Verantwortlichen ist Henning Borggräfe - ein Schlacks mit offenem Hemd, der sagt: „Die Potenziale sind noch gar nicht richtig gehoben.“ 85 Prozent der Bestände sind digitalisiert. Die Erschließung war aber bisher auf Personen fixiert.

Überdies erteilt der Suchdienst Auskünfte, wenn NS-Täter vor Gericht gebracht werden sollen, wie dies bis in die jüngste Zeit geschieht. So fand sich in den Archiven die Krankenakte von John Demjanjuk, der im Vernichtungslager Sobibor als Wachmann tätig war und 2011 wegen Beihilfe zum Massenmord verurteilt wurde. Längst sind Online-Recherchen möglich. Allerdings könne man anhand der Bestände nicht gut Untersuchungen über medizinische Experimente in Konzentrationslagern machen, sagt Borggräfe.

Für Lokalhistoriker kann der Dienst genauso nützlich sein wie für Schüler vor einer Klassenfahrt zu einer Gedenkstätte. Das setzt eine andere Art der Erschließung von Akten voraus. Eine thematische Erschließung eben. Borggräfe würde ohnehin gern „Verbindungen zur Gegenwart herstellen - ohne plumpe Analogien zu ziehen“. So haben sie in Bad Arolsen jede Menge Dokumente über Menschen, die nach 1945 ohne Bleibe waren, darunter Millionen Flüchtlinge. Und Millionen Flüchtlinge, die gibt es ja jetzt wieder.

Der ursprüngliche Zweck

Das alles heißt nicht, dass der Suchdienst seinen ursprünglichen Zweck vollkommen eingebüßt hätte. Man spürt es, wenn der Leiter des Archivs, Christian Groth, eine der Schubladen mit den Effekten öffnet. Effekten sind persönliche Gegenstände, die einen maßgeblich ideellen Wert besitzen und in Bad Arolsen für gewöhnlich in einen Briefumschlag passen: Briefe, Fotos, Uhren, Ringe. Rund 3 200 solche Umschläge haben sie. Gerade vorige Woche eilte eine Familie aus Schweden herbei, um einen von ihnen in Empfang zu nehmen.

Denkbar, dass eines Tages auch noch jemand kommt, um die Effekten zu beanspruchen, die Groth jetzt in der Hand hält. Es handelt sich um die Habseligkeiten des Niederländers Johannes Berens, am 27. Januar 1924 geboren und im KZ Neuengamme eingesperrt.

Dabei fallen besonders die Fotos jener langhaarigen jungen Frau ins Auge. War es seine Schwester, seine Freundin, gar seine Ehefrau? Heute geht es überwiegend nicht mehr darum, Lebende zu finden, sondern die Wege der Toten nachzuzeichnen. Die Fragen werden komplexer und damit die Recherchen. Die Schatten der Geschichte sind lang.

Ursula und Eli, Tochter und Sohn von Nathan, werden sich im Juni das erste Mal treffen - in Heidenheim, wo die Familiengeschichte damals im Jahr 1947 begann. „Meinen Bruder kennenzulernen, ist ein großes Geschenk, mit dem ich nie gerechnet hätte“, sagt sie. Er sagt: „Mein Vater war ein sehr herzlicher, aber schwer kranker Mann. Er hat nicht über die Vergangenheit sprechen wollen.“ Die Vergangenheit blieb fast 70 Jahre lang im Dunkeln. Bis sie auch mit Hilfe derer in Bad Arolsen ans Licht kam. (mz)