Herbst 1989 Herbst 1989: Chef der Pioniere im inneren Kreis

Halle (Saale) - Es waren Kleinigkeiten, kaum zu bemerken. „Aber man spürte immer öfter, dass man nicht mehr ganz konform war“, sagt Wilfried Poßner über sein früheres Ich. Auch aus dem Abstand von 25 Jahren sind Sommer und Herbst 1989 eine Zeit, die den Mann mit dem kleinen Stecker im Ohrläppchen noch beschäftigen. Poßner, Sohn einer Arbeiterfamilie aus Neustadt an der Orla, war damals gerade 40 Jahre alt und seit vier Jahren Chef der Pionierorganisation der DDR. Ein Posten im Dunstkreis der Staatsspitze, die in der Arbeiter- und Bauernrepublik immer zuerst die Parteispitze war: Poßner saß im Zentralrat der Jugendorganisation FDJ, er war Mitglied der Jugendkommission des SED-Politbüros und Volkskammerabgeordneter.
Aber eben auch nicht ganz konform, für die Verhältnisse ganz oben, wo eine Gruppe aus älteren und alten Männern seit fast 20 Jahren in nahezu unveränderter Konstellation regiert. „Wir wollten verändern“, sagt Wilfried Poßner, dessen Karrierestart als sogenannter Nomenklaturkader fast daran gescheitert wäre, dass er sich weigerte, seinen von den führenden Genossen als westlich-dekadent kritisierten Schnauzbart abzurasieren.
Es geht nicht um Systemkritik, es geht nicht um Revolution. Es seien aus heutiger Sicht „natürlich nur Kleinigkeiten“ gewesen, die die nachkommende DDR-Generation anders anpacken will. Das Jugendweihegelöbnis etwa, das Poßner so „knüppelhart fand, dass Du bei jeder Veranstaltung gemerkt hast, das funktioniert nicht“, soll ein Versprechen werden, lockerer, leichter, verbindlicher. „Oder das FDJ-Studienjahr, da wollten wir näher an das wahre Leben ran.“
"Behandelt wie Abweichler"
Doch nicht einmal das ist möglich. Die drei, vier Spitzenfunktionäre mit FDJ-Hintergrund können die Köpfe zusammenstecken. Ändern aber können sie nichts. „Wir kamen automatisch dem Bereich der Bildungsministerin ins Gehege - und bei Margot Honecker galt eben nur, was sie sagte.“ Es grummelt in der Chefetage der FDJ, die sich als Kampfreserve der Partei versteht, von der Parteiführung aber aufs Abstellgleis geschoben wird. Hinter jeder Kritik wittert die vom Arbeiteraufstand des Jahres 1953 geprägte Generation der Honeckers, Mielkes und Stophs die Konterrevolution, wie Poßner sagt. „So hatten wir eine Untersuchung zu Stimmungen und Meinungen unter der Jugend in Auftrag gegeben, wo die Ergebnisse ernüchternd ausfielen“, sagt Poßner, „und als wir sie vorlegten, wurden wir behandelt wie Abweichler“.
Ausgerechnet Gorbatschow, mit dem viele in der DDR die Hoffnung auf Öffnung und mehr Freiheit verbinden, macht die Räume ganz oben an der Spitze noch enger. „Gorbatschow hat dazu geführt, dass die Burgmauern noch mal höher gezogen worden sind.“ Nach außen hin wird die vielbeschworene Freundschaft zur Sowjetunion zwar noch demonstrativ gepflegt. „Aber intern war klar, dass das nicht unser Kurs sein würde.“
Wilfried Poßner schwankt damals. Einerseits sind da die verdienten Genossen im Politbüro, gestählt in Kämpfen gegen Nazis und Kapitalisten. Andererseits das Verbot der Zeitschrift „Sputnik“ und die Verbannung sowjetischer Filme. In Gesprächen mit anderen FDJ-Funktionären ein Dauerthema: Haben die da oben die Situation noch in der Hand? Wissen sie, was sie tun? Sind ihre Rezepte der Abschottung und der harten Hand noch die richtigen?
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Die Zuspitzung der Lage im Land mit dem Anwachsen der Fluchtbewegung, dem Beginn der Demonstrationen und dem dazu dröhnenden Schweigen des Politbüros verstärkt nur den Eindruck, dass ganz oben Ratlosigkeit herrscht. „Wir hatten Reformideen, wenn sie auch aus heutiger Sicht nicht ausreichend gewesen wären“, glaubt Poßner, „aber es gab keine Möglichkeit, sie auch nur zu diskutieren.“
Das Problem ist das aller geschlossenen Machtsysteme: Wer sich zu früh regt, wird wegrasiert. Wer aber zu lange wartet, verliert seine Chance, nachzurücken, weil er zu spät kommt. Es ist dies auch das Dilemma der Generation FDJ: Männer, die den größten Teil ihres Lebens in der DDR verbracht hatten und die auserkoren waren, eines Tages an ihrer Spitze zu stehen, entschieden sich im Zwiespalt zwischen erlernter Parteidisziplin und Aufbegehren für ein ausdauerndes Abwarten. „Wir saßen zu lange dem Irrtum auf, dass der Wechsel an der Spitze biologisch passieren wird.“
Am Abend des 40. Geburtstages der Republik hat Wilfried Poßner dieser Glaube verlassen. Der Fackelzug der FDJ zieht unter „Gorbi, Gorbi“-Rufen am Palast der Republik vorbei. „Und das größte Problem, was alle damit hatten, war die Frage, warum wir das nicht haben verhindern können.“ Poßner ist erschrocken und entsetzt. „Noch in derselben Nacht habe ich mich hingesetzt und einen Brief an Egon Krenz geschrieben, in dem ich ihm sagte, dass das alles aus meiner Sicht nicht mehr geht und jetzt gehandelt werden muss.“ Nicht mehr fünf vor zwölf, sondern schon längst fünf nach zwölf sei es.
"Persönliche Konsequenzen"
Es sind die Tage, in denen sich die Lage fortwährend zuspitzt. „Es war nicht klar, ob geschossen wird, es war nicht klar, was mit uns passiert, nachdem wir noch mal eine ganz harte, kritische Analyse vorgelegt hatten.“ Zum ersten Mal fürchtet der studierte Lehrer, der immer mit voller Überzeugung für die DDR gestritten hatte, dass „es auch persönliche Konsequenzen geben könnte“. Für ihn selbst sei es undenkbar gewesen, „die Leute, die uns unser Versagen vor Augen führen, dafür zu bestrafen“. „Aber es gab ja auch die Sichtweise, dass hier die Konterrevolution marschiert, unterstützt von Wankelmütigen in den eigenen Reihen.“
Die Vertreter dieser Ansicht hätten, davon ist Poßner fest überzeugt, „mit Sicherheit überlegt, ob es nicht besser ist, die Lage zuzuspitzen“. Diesen Hardlinern habe eine Lösung wie auf den Tian'anmen-Platz in China vorgeschwebt. „Deshalb halte ich es bis heute für eine der größten Kulturleistungen, dass diese ganze Geschichte friedlich abgelaufen ist.“
Als Egon Krenz Mitte Oktober als Honecker-Nachfolger antritt, ist er für das Volk schon kein Hoffnungsträger mehr, sondern eine Enttäuschung. Krenz selbst habe das auch gewusst, glaubt Wilfried Poßner. Es sei nicht so gewesen, dass sich mit der Honecker-Nachfolge der Lebenstraum des ewigen Kronprinzen erfüllt habe. „Ein Jahr vorher ja, da wäre das so gewesen, aber nun war es zu spät und Egon wusste das auch.“ (mz)
