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Hans-Joachim Maaz im Interview Hans-Joachim Maaz im Interview: Warum Anpassungsdruck besonders auf Ostdeutschen lastet

27.10.2017, 04:00
Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz im Jahr 2016 in Leipzig
Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz im Jahr 2016 in Leipzig dpa

Halle (Saale) - Der Osten scheint auf Krawall gebürstet. Parteien- und Politikerskepsis, Angst vor Selbst- und Kontrollverlust, vor Abstieg, Minderwertigkeitskomplexe, das Gefühl, abgehängt, ohnmächtig gegenüber Macht und Marktmechanismen zu sein, Lohn- und Rentendifferenzen - warum ein Teil der Ostdeutschen unzufrieden ist, hat viele Ursachen. Und viele Folgen.

So konnte die AfD bei der Bundestagswahl im Osten ihre größten Erfolge feiern. Es ist Indiz einer schweren gesellschaftlichen Krise, die der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz Deutschland attestiert. Als Experte war er schon vor dem Mauerfall gefragt, berühmt aber wurde der approbierte Psychiater aus Halle mit seinem Buch „Der Gefühlsstau“. Die MZ hat mit dem 74-Jährigen gesprochen.

Entfesselte Gewalt beim G-20-Gipfel, Anfeindungen gegen Spitzenpolitiker, Pfeifkonzerte auf Straßen und Plätzen, verbale Entgleisungen im TV und Netz – was ist los in diesem Land?
Hans-Joachim Maaz: Allerorts entlädt sich Frust in einem nie dagewesenen Ausmaß. Die Gesellschaft driftet auseinander. Teile der Bevölkerung – vor allem der ostdeutschen – haben das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren: über die eigene Biografie und auch über die Politik.

Das führt zur Aushöhlung der Demokratie, zur inneren Emigration. Man verweigert sich der vorherrschenden Politik und überschreitet Grenzen. Unzufriedene Menschen lassen ihren Frust zumeist an Schwächeren aus und zunehmend auch an den Mächtigen, die Verantwortung an der Entwicklung und auch Schuld tragen. Unzufriedene Menschen suchen ihr Heil in Versprechen von Kräften, die ihnen Sicherheit garantieren und ein Zusammengehörigkeitsgefühl geben.

Sie spielen auf den Wahlerfolg der AfD an. In Sachsen-Anhalt ist die Alternative für Deutschland zweitstärkste, in Sachsen sogar stärkste Kraft geworden. Eine Überraschung für Sie?
Hans-Joachim Maaz: Nein. Dieses Ergebnis ist nicht nur eine Ohrfeige für das politische Establishment, sondern ein Ausdruck für Angst vor den Auswüchsen des real existierenden Kapitalismus. Die Solidargemeinschaft, wie es sie zu DDR-Zeiten noch gab, ist seit der Wende unter dem massiven Druck der Durchsetzungs- und Konkurrenzlogik des Kapitals, dem die herrschende Politik folgt, erodiert.

Gruppen von Menschen werden inzwischen vielfach nach ökonomischen Kriterien bewertet, also nach ihrer Verwertbarkeit, ihrer Nützlichkeit und Effizienz. Diese Prinzipien sind immer stärker in die Lebenswelt der Bevölkerung eingedrungen und haben in allen Schichten zu einem profitorientierten Denken geführt. Dadurch werden besonders bestimmte Gruppen abgewertet und diskriminiert – Langzeitarbeitslose, Hartz-4-Empfänger, Niedrigqualifizierte, Obdachlose, Behinderte.

Die sozial Schwachen sehen dann auf die noch Schwächeren herab. Davon sind besonders Migranten bedroht. Und es macht viele Menschen enttäuscht und zornig, dass plötzlich so viel Geld für die auch illegal Zugewanderten zur Verfügung steht und die eigene Armut, die Armut ihrer Kinder, vernachlässigt wird.

Zunehmend klagen auch Menschen mit höherem sozialen und finanziellen Status darüber, dass sie als Leistungsträger ein stressreiches Leben führen müssen, oft über die eigenen Kräfte hinaus. Sie halten diese profitorientierte Lebensform für ungerecht und lehnen sie ab. Vor allem, wenn sie über die Verwendung von Steuergeldern keinen Einfluss haben. Materielle Gier und soziale Ungerechtigkeit zerrütten gesellschaftliche Gefüge.

Das heißt, die Fremdbestimmung treibt vor allem die Ostdeutschen auf die Barrikaden? Ausgelöst von dem Gefühl, nicht mehr Herr, sondern Knecht der Entwicklung zu sein?
Hans-Joachim Maaz: Im weitesten Sinn schon. Ostdeutsche haben durch die DDR-Erfahrung eine geschärfte Wahrnehmung für falsche Politik, für Ideologie und Heuchelei und auch für eine einseitig mediale Darstellung. Sie sind kapitalismuskritischer und misstrauischer gegenüber jeder Obrigkeit – so gesehen ist der Protest, der aus dem Osten kommt, eine Chance für den notwendigen kritischen Diskurs für das ganze Land.

Dazuzugehören bedeutet, dass Menschen Zugang zu den Institutionen der Gesellschaft wie dem Arbeitsmarkt, dem kulturellen und politischen Leben haben, und auch – das ist sehr wichtig – dass sie sich als anerkannt wahrnehmen. Das Wahrgenommenwerden und die Anerkennung sind für viele aber nicht gewährleistet. Das gilt für viele Menschen im Osten. Nach der Wiedervereinigung wurde bei der Mehrheit die Leistung eines ganzen Lebens entwertet.

Ganze Landstriche sind dort innerlich emigriert. Menschen haben das Gefühl, dass sie oder die Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, in der Politik keine Stimme haben, dass sie überhaupt nicht wahrgenommen werden. Und bekanntlich fühlt sich der, der nicht wahrgenommen wird, als ein Nichts. Das wiederum schwächt den Glauben an die Demokratie. Sie verliert an Bedeutung. Es wächst der Zweifel an unserem demokratischen System, an dem Sozialstaat und an sozialer Gerechtigkeit. Als ein besonderer Vertrauensbruch für die Wirksamkeit, den Schutz des demokratischen Systems ist der Verlust der staatlichen Kontrolle bei der illegalen Masseneinwanderung zu verstehen.

Zur Fremdbestimmung: Wie viel Vergangenheit steckt in der Gegenwart?
Hans-Joachim Maaz: Die Generation Mauer trägt nicht nur ihren eigenen Panzer mit sich, sondern auch die gepanzerte Kindheit ihrer Eltern und Großeltern in sich. Eine Generation, die zwar keinen realen Krieg erlebt hat, aber permanent darauf konditioniert wurde.

Kalte Krieger, die darauf geeicht wurden, dass das politische Andere über Nacht unbemerkt die Grenzen des Landes fluten und sie auflösen könnte. Viele Menschen fühlten sich nach der Wende alleingelassen. Für manche ist AfD wählen oder mit Trillerpfeifen gegen Angela Merkel protestieren die letzte Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen. Sie folgen einer Protestpartei, die nicht den Makel der Ost-Vergangenheit mitschleppt wie die Linken.

Sondern einer Partei, die sagt: Wir geben euch zurück, was euch zusteht, also eure Identität, den Schutz des Eigenen, Sicherheit und Orientierung durch eine ehrliche Politik. Und es bringt gar nichts, der AfD vorzuwerfen, dass das alles nur ein Blendwerk sei, weil damit die Realität des Frustes nicht verstanden und beantwortet wird.

Das heißt, der Bundestagswahlkampf 2017 wurde nicht durch Debatten über Gerechtigkeit gewonnen, sondern über Fragen nach Kultur und Identität?
Hans-Joachim Maaz: Ja. Die neue Rechte, die sich zum Sprachrohr dieser sich im politischen System nicht mehr repräsentiert fühlenden Verlierer des kosmopolitischen Liberalismus macht, führt keine Debatte um die Verteilung von Lebenschancen und die Einhegung der Märkte, sondern um Themen wie Identität, Heimat, kulturelle Werte als Ausdruck einer Sorge um rechtliche Spielregeln und ethische Standards.

Trotz zunehmendem materiellen Wohlstand entstand bei Teilen der Ostdeutschen ein Gefühl von Verlust und Entwertung der eigenen Lebensgeschichte. Und Neid auf die, die von Politik und Gesellschaft gesehen werden: Flüchtlinge. „Mutti“ Kanzlerin Merkel hat im Herbst 2015 neue bedürftige Kinder aufgenommen und übersah jene, die sich schon lange in ihrem Haushalt vernachlässigt fühlten. Keinem von ihnen wurde etwas weggenommen, dennoch entstand ein Neidkampf um Stolz und Biografie.

Jenen Oppositionellen, die unter hoher Gefahr 1989 die Revolution im Osten auf die Straße und unters Volk gebracht haben, flicht man im Unterschied zu Helmut Kohl keine Kränze mehr. Es gibt eine Stasi-Unterlagen-Behörde und eine Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, aber kein Archiv der Friedlichen Revolution, keine Bibliothek der 89er-Ideen. Was ist aus den Runden Tischen geworden? Was aus der Idee einer gemeinsamen Verfassung? Wo ist sie hin, die politische Bildung?

Menschen emanzipieren sich von ihren Eltern. Das nennt man Reife und Erwachsenwerden, Gestalten statt Gestaltetwerden. Warum fällt es vielen Menschen so schwer, aus ihren Denkmustern auszubrechen?
Hans-Joachim Maaz: Weil wir auf Angepasstheit, Überkorrektheit und Überkonformität konditioniert sind. Durch Eltern, Schule, gesellschaftliche Regeln und Werte sowie Vorgesetzte. Ich habe dafür den Begriff der Normopathie geprägt. Die Zwanghaftigkeit, mit der wir Erwartungen entsprechen, verrät, dass wir ein falsches Leben führen.

Wir unterwerfen uns einem Anpassungsdruck – bis die Gelegenheit kommt, uns abzureagieren. Falsches Leben meldet sich durch Unzufriedenheit, Gereiztheit, vielfache Beschwerden und immer wieder durch psychosoziale Konflikte der Kränkung, Verletzung, der Enttäuschung. Das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, lässt eine tiefe Entfremdung erahnen.

Das zu erkennen, setzt Reflexionsvermögen voraus. Und birgt ein großes Risiko: Wer den Zustand falscher Anpassung aufgibt, der ist zunächst allein mit sich. Die Angst vor dem Alleinsein ist eine kindliche (schlimme) Erfahrung, für deren Abhilfe die meisten Menschen faule Kompromisse eingehen und unterwerfende Anpassung akzeptieren. So wächst das Heer der Nörgler, der Dysphoriker und Nischen-Existenzen.

Ihrer Beobachtung nach ähneln die Krankheitssymptome des „real existierenden Kapitalismus„ denen des „real existierenden Sozialismus“.
Hans-Joachim Maaz: Es ist vor allem die Unfähigkeit der politischen Elite, die Ursachen einer krisenhaften Fehlentwicklung zu erkennen und dementsprechend umzusteuern. Gute Führung ist Kompetenz, aber auch Akzeptanz der Begrenzung. Wenn Politiker wachsende Gewalt in der Gesellschaft nur verurteilen, wissen sie nicht, was sie tun: Sie verleugnen und missachten die psychosozialen Verhältnisse, die zur Gewalt führen und für die sie mit die Verantwortung tragen.

Mit der diskriminierenden Verurteilung ist überhaupt nichts gewonnen. Wenn man einem Dicken zuruft „iss weniger“, einen Trinker zur Abstinenz auffordert, einem Raucher mit tödlicher Gefährdung droht, ohne das Fehlverhalten in seinen Ursachen zu verstehen und gesünderes Verhalten zu erlernen, werden das Leid und der Konflikt nur verschärft. Auf die normopathische Gesellschaft bezogen heißt das, wir müssen unsere falsche – materialisierte, profitmaximierende – Lebens- und Wachstumssucht erkennen und natürlichere Lebensformen finden und entwickeln, die ich besonders in „Beziehungskultur“ sehe, das heißt bessere Kommunikation, Akzeptanz von Andersdenkenden, Austausch unterschiedlicher Positionen mit der Suche nach dem jeweils besten gemeinsamen Nenner.

Der Psychiater Ernst Kretschmer sagte 1919 über Psychopathen: „In ruhigen Zeiten diagnostizieren wir sie; in unruhigen regieren sie uns.“ Gefällt Ihnen dieser Satz?
Hans-Joachim Maaz: Ja, sehr. In krisenhaften Zeiten sind Führer an der Macht, die Sehnsüchte nach Stabilität und Sicherheit wecken, die in der Lage erscheinen, die eigene verleugnete seelische Realität zu verwalten und nicht infrage zu stellen. In sie wird eine Hoffnung projiziert und delegiert, die sie gar nicht erfüllen können. Unsere bisherige materialisierte Lebensform hat eine kritische Grenze erreicht. Wir brauchen Politiker mit dem Mut zu Visionen und realen Veränderungen, wobei ich die Orientierung an einer „Beziehungskultur“ im Mittelpunkt sehe.

Zur Person Hans-Joachim Maaz: Psychoanalytiker und Autor

Hans-Joachim Maaz wuchs in Sachsen auf und studierte Medizin an der Universität Halle. Bis 2008 war er Chefarzt der Psychotherapeutischen und Psychosomatischen Klinik im Diakoniewerk Halle. Maaz ist bekannt für Analysen kollektiver Befindlichkeiten und gesellschaftlicher Zustände - vom Gefühlsstau, einem Psychogramm der DDR, bis zur narzisstischen Gesellschaft, einer Psycho-Analyse unserer Leistungsgesellschaft. In seinem neuesten Buch „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ warnte der 74-Jährige Anfang des Jahres vor den Auswüchsen einer gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fehlentwicklung. (mz)