Gesundheit Gesundheit: Ab wann ist Rindfleisch zu giftig?
BERLIN/MZ. - Die Substanzen sind fünfhundertmal giftiger als Strychnin. Sie reichern sich im Fettgewebe an, können Krebs auslösen, die Leber schädigen, Entwicklungsstörungen bei Kindern verursachen und die Fortpflanzungsfähigkeit beinträchtigen. 27 Jahre dauert es, bis polychlorierte Biphenyle (PCB) vollständig vom menschlichen Körper abgebaut sind. Mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung nimmt täglich eine PCB-Menge vornehmlich über Fleischprodukte zu sich, die über dem empfohlenen Vorsorgewert der Weltgesundheitsorganisation liegen.
Kinder besonders gefährdet
Dabei sind Ungeborene und Säuglinge viel stärker belastet als Erwachsene, denn die dioxinähnlichen PCB-Verbindungen gelangen über die Muttermilch und die Placenta in vergleichsweise hohen Mengen in den Körper des Babys.
In Deutschland stellte das Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und angewandte Ökologie im Abschlussbericht "Expositionsbetrachtung und Beurteilung des Transfers von Dioxinen und dioxinähnlichen PCB" vom Oktober 2010 fest, dass mehr als die Hälfte der gezogenen Rindfleischproben eine PCB-Belastung oberhalb des EU-Auslösewerts von einem Pikogramm je Gramm Fett aufwiesen. Im Unterschied zum gesundheitlich zulässigen Höchstwert von 4,5 Pikogramm handelt es sich beim Auslöse-Wert um "ein Instrument für die zuständigen Behörden und Unternehmen, mit dem sie diejenigen Fälle ausfindig machen können, in denen es angezeigt ist, eine Kontaminationsquelle zu ermitteln und Maßnahmen zur Beschränkung oder Beseitigung zu ergreifen", wie die EU-Kommission im Februar 2006 bei Einführung des Grenzwerts formulierte.
Auch das Umweltbundesamt (UBA) plädiert seit langem dafür, die "bereits in kleinsten Mengen extrem giftigen" PCB- und Dioxinbelastung der Umwelt weiter zu verringern. Die Bundesregierung hat sich, angesichts der massenhaften Übertretung des EU-Auslösewerts, freilich für eine anders gelagerte Maßnahme entschieden: Auf Antrag Deutschlands soll der bisherige Grenzwert um 100 Prozent auf zwei Pikogramm erhöht werden. "Anstatt alles zu tun, um die Belastung der Umwelt und damit indirekt die Belastung von Rindfleisch und anderen Lebensmittels mit dioxinähnlichen PCB drastisch zu reduzieren, soll jetzt einfach der EU-Auslösewert nach oben angepasst werden", kritisiert Hartmut Vogtmann, Vizepräsident des Deutschen Naturschutz-Rings das Vorgehen.
In einem Schreiben vom 28. Juni 2010 an Vogtmann rechtfertigte das Bundesumweltministerium den deutschen Vorstoß damit, der bisherige EU-Auslöse-Wert sei schlicht zu niedrig. Er liege "im Bereich der für den Rindfleischproduzenten unvermeidbaren Hintergrundbelastung mit dioxinähnlichen PCB in Deutschland", sei daher für eine "bestimmungsgemäße Anwendung ungeeignet".
Metallherstellung setzt PCB frei
In Wahrheit handelt es sich aber nicht um eine unvermeidbare, gleichsam natürliche PCB-Belastung: Das Umweltbundesamt nennt vor allem Sinteranlagen zur Metallgewinnung als Emissionsquellen von Dioxinen und PCB in Deutschland. In den Empfehlungen des Amtes heißt es: "Da die bereits in der Umwelt vorhandenen Dioxine weltweit verbreitet sind und sich nur sehr langsam abbauen, muss Vorsorge getroffen werden, dass diese Stoffe möglichst nicht in die Nahrungskette gelangen."
Am Montag wird der EU-Regelungsausschuss der von der Bundesregierung betriebenen Verdopplung des bisherigen Auslöse-Werts voraussichtlich zustimmen.