Gesellschaft Gesellschaft: Pflegeheime stehen in der Kritik

Köln/dpa. - Mit 93 Jahren kam Maria nach einer Krankheit insHeim. Dort fühlte sie sich schlecht behandelt und wollte entgegenaller medizinischen Ratschläge wieder in ihre eigenen vier Wändezurück. Sie habe «ein derart herausforderndes Verhalten» gezeigt,dass sie vom Heim herausgeworfen wurde - «das war ihr Glück», erzähltWilhelm Rückert vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA). Nachbarnversorgten die kontaktfreudige alte Kölnerin, und die Kneipe aus demErdgeschoss lieferte ihr die Mahlzeiten. «Wenn wir mehr dieserNachbarschafthilfe hätten, kämen wir mit weniger Heimplätzen aus»,betont Experte Rückert. Und das käme wiederum der umstrittenenQualität der Pflege und der knappen Personalausstattung zugute.
Berichte über Missstände in Altenpflege-Einrichtungen häufen sichin den vergangenen Monaten. Für Schlagzeilen sorgen Todesfälle durchWundliegen, lebensbedrohliche Mangelernährung, das Austrocknen alterMenschen durch zuwenig Trinken und angebliche Selbstmorde aus Angstvor Heimunterbringung. «Eine ganze Reihe von gravierenden Problemenund Mängeln» sehen das Kuratorium KDA in Köln und der MedizinischeDienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS/Essen). Zugleichwarnen sie aber vor falschen «Horrorberichten».
«Ein Riesenproblem sind das Wundliegen und die richtigeErnährung», sagt Rückert. «Die Menschen ernähren sich schlecht,vergessen in Verbindung mit Demenz auch oft das Essen und kommenunterernährt in die Heime, wo sich das Problem fortsetzt.» Folgen vonMangelernährung können körperlicher und geistiger Verfall, erhöhtesSturz-Risiko und auch eine höhere Sterblichkeit sein. Zahlen wiejüngst vom Sozialverband Deutschland veröffentlicht, denen zufolge10 000 Bettlägrige in deutschen Altenheimen sterben, weil sieunbewegt liegen und mangel- oder unterernährt sind, werden aberdurchweg als unseriös und überzogen zurückgewiesen.
MDS-Pflege-Experte Uwe Brucker erklärt das Dilemma: «Keiner hatZahlen.» Zugleich betont er: «Die Angaben auf dem Todessschein unddie wirkliche Todesursache müssen nach Untersuchungen vonRechtsmedizinern nicht immer identisch sein.» Der Bundesverbandprivater Anbieter sozialer Dienste (bpa), der 4000 Einrichtungenvertritt, wehrt sich vehement «gegen eine Kriminalisierung einerganzen Branche».
Angesichts der wachsenden Zahlen von Alten und Pflegebedürftigenmuss das Thema Pflege Top-Priorität erhalten, mahnen Experten: «Wirbrauchen einen höheren öffentlichen und politischen Stellenwert fürdie Altenhilfe und -pflege, sonst wird es keine Qualitätsverbesserunggeben», meint Rückert. Derzeit sind mehr als zwei Millionen Menschenpflegebedürftig, 650 000 von ihnen leben in Alten- und Pflegeheimen.Die Rürup-Kommission rechnet für 2020 bereits mit 2,6 MillionenPflegebedürftigen, im Jahr 2030 schon mit 3,1 Millionen. Die Hälfteder Pflegebedürftigen ist schon heute über 80 Jahre alt.
Parallel dazu wird die deutsche Bevölkerung immer älter: 2010werden 26 Prozent 60 Jahre oder älter sein, 2030 schon jeder dritte.Die Menschenwürde der Heimbewohner werde auf der Strecke bleiben,wenn immer stärker Kostengründe und Sparmaßnahmen in den Vordergrundtreten, warnt Brucker vom MDS. «Es darf nicht sein, dass Ein-Bett-Zimmer als nicht mehr finanzierbar gelten und einzelne Häuser dasKassieren von Pflegegeldern in den Mittelpunkt rücken.» Für diePflegeseite betont bpa-Geschäftsführer Herbert Mauel, die Heimehätten im Alltag gegen einen schleichenden Abbau von Standards aufGrund leerer Kassen zu kämpfen.
Als Ursachen für die Mängel in einigen der rund 9200 zugelassenenPflegeeinrichtungen nennen Experten etwa unzureichende Kenntnisse beivielen Pflegern, zu wenig Personal mangels finanzieller Mittel undhäufig eine schlechte Organisation seitens der Heimleitung. «Wenn wirzehn Prozent mehr Pfleger hätten, wäre das schon viel wert», meintRückert.
Fachleute sehen die Altenpflege zugleich klar auf ein Zwei-Klassen-System zusteuern: Etwa die Hälfte der Alten- undPflegeheimbewohner in Deutschland sind schon jetzt auf Sozialhilfeangewiesen.
Zugleich gibt es aber derzeit auch mit zunehmendenQualitätskontrollen vor allem durch die Medizinischen Dienste derKrankenkassen einige Fortschritte, meint das Kuratorium Altershilfe.«Die Probleme werden zunehmend auch von den Heimleitungen gesehen,mehrere private Altenheime haben zum Beispiel eine Kampagne für einebessere Ernährung gestartet», sagt Rückert. Beispielhaft sei dieVerknüpfung von Ernährung und Bewegung, da Bewegung Hunger und Durstmache, und Gymnastik zugleich Kontinenztraining bedeute. «DieSensibilität für das Problem ist gewachsen, aber es gibt noch sehrviel zu tun.»
Trotz Personalmangels plädieren MDS und KDA dafür, nicht wahllosüber die Ein-Euro-Jobs im Rahmen der Hartz IV-Reform Kräfte in diePflegebranche zu bringen. Das Kuratorium KDA könnte sich Ein-Euro-Kräfte höchstens im «weichen Bereich» vorstellen, also etwa zumSpazierengehen oder Gesellschaft leisten, um die Fachkräfte zuentlasten. Schätzungen gehen von bis zu 20 000 fehlendenPflegekräften aus. Für den eigentlichen Pflegebereich sollten Ein-Euro-Kräfte aber tabu sein, meint Brucker: «Es kann nicht gehen unterder Devise: Pflegen kann ja jeder. Für den Pflegesektor wäre das keinBeitrag zu Professionalisierung und Qualitätsanhebung.»