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Geschichte Geschichte: Flucht aus der Heimat

Von Jörg Schurig 10.09.2008, 09:27
Wenige Tage nach dem blutigen Militärputsch in Chile im September 1973 singen FDJ-Mitglieder auf einer Bühne auf dem Berliner Alexanderplatz bei einer Solidaritäts-Kundgebung die Hymne der Unidad Popular «Venceremos» (wir werden siegen). (Foto: dpa)
Wenige Tage nach dem blutigen Militärputsch in Chile im September 1973 singen FDJ-Mitglieder auf einer Bühne auf dem Berliner Alexanderplatz bei einer Solidaritäts-Kundgebung die Hymne der Unidad Popular «Venceremos» (wir werden siegen). (Foto: dpa) dpa-Zentralbild

Dresden/dpa. - Die Bilder vom brennendenRegierungspalast Moneda in Santiago de Chile und von PräsidentSalvador Allende haben sich Menschen in aller Welt ins Gedächtnisgebrannt. Auch die DDR und die Bundesrepublik gehörten zu jenenStaaten, die den Flüchtlingen eine neue Heimat boten.

Mindestens 2000 Chilenen kamen in den folgenden Monaten in dieDDR, andere Quellen sprechen gar von 5000. Unter ihnen war auch dieheutige chilenische Präsidentin Michelle Bachelet. In Westdeutschlandlandeten etwa 4000 Betroffene. Vor allem der Osten avancierte zumZentrum des Widerstandes gegen Pinochet, hierher hatte es vieleKommunisten und Sozialisten gezogen. Die Hymne der Unidad Popular -dem linken Wahlbündnis Allendes - wurde zu einem Gassenhauer. Fastjedes Kind kannte den Song «Venceremos» (Wir werden siegen).

Die Germanistin Karla Thomä aus Dresden erinnert sich genau an den11. September vor 35 Jahren. Sie arbeitete damals in der RadebeulerZweigstelle des Herder-Institutes. Auch ein paar Chilenen gehörten zuihren Deutsch-Schülern. Eine Kollegin hatte im Fernsehen Bilder vomPutsch gesehen und kam am Abend nochmals nach Radebeul. «Sie rieflaut: Die Moneda brennt. Da war plötzlich alles ganz anders.»

Die damals 29 Jahre alte Natacha Matzen-Bravo hat den Angriff aufdie Moneda miterlebt. Sie arbeitete damals für die CorporacionNacional del Cobre de Chile (Codelco), den größte Kupferherstellerder Welt. Codelcos Firmensitz in Santigo lag dem Regierungspalastgegenüber. Eine Woche nach dem Putsch wurde Natacha entlassen. AlsKommunistin und Tochter einer bekannten Politikerin war sie inPinochets Chile chancenlos. «Ich hatte in Kuba und Moskau Slawistikstudiert, das war dem Regime suspekt.»

Nach mehreren Hausdurchsuchungen wurde Natacha von einem Vettergewarnt. «Ein Freund von ihm war bei der Junta und hatte meinen Namenauf einer schwarzen Liste gesehen. Wir mussten schnell weg.» Matzen-Bravo floh mit ihren zwei kleinen Kindern nach Argentinien, 1974 kamsie in die DDR, zuerst nach Potsdam. Dort lernte Natacha die Spracheihrer neuen Heimat. «Wir wurden in der DDR gut betreut. Wir kamen vomKrieg in den Frieden.» Fortan unterrichtete sie chilenische Kinder,später dann Studenten im damaligen Karl-Marx-Stadt (Chemnitz).

«Die Zeit war sehr emotionsgeladen und aufregend», erzählt Thomä.Vor allem an die Feste in Dessau, wo sie für ein paar Monate alsLehrerin aushalf und Journalisten und Künstler unterrichte, bliebenunvergesslich. «Immer wenn ein neuer Bus kam, gab es ein großesBangen, ob Familienmitglieder dabei waren.» Die Chilenen lebten ineinem Zustand zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.Einmal habe sie zwei Männer gesehen, wie sie Tango tanzten und dabeiVokabeln lernten.

Thomäs Kollegin Edith Höher hat viele Dokumente aus dieser Zeitaufbewahrt, darunter ein Telegramm des Tänzers und ChoreografenPatricio Bunster, der seine Deutschlehrerin zu einer Premiere ansDresdner Staatsschauspiel einlud. Die meisten chilenischen Künstlerwaren zunächst in Rostock untergebracht. Bunster bekam später eineStelle als Professor an der Dresdner Palucca Schule. Konflikte gab esfreilich auch. «Natürlich waren nicht alle DDR-Bürger begeistert,dass Chilenen die begehrten Wohnungen bekamen», erinnert sich Höher.

Mitte der 80er Jahre setzte die Rückkehr in die Heimat ein. Ende1989 waren nach offiziellen Angaben noch 334 Chilenen in der DDRregistriert. Matzen-Bravo ging im Jahr darauf zurück, um ihre krankeMutter zu pflegen. «Ich fand ein völlig verändertes Land. Es war tiefgespalten, in Anhänger von Pinochet und Anhänger der Demokratie.» Bis2002 blieb sie in Chile, eine feste Arbeit fand sie dort nicht. Auchdeshalb trieb es sie wieder nach Chemnitz. «Ich bin an erster StelleMutter. Meine Heimat ist dort, wo meine Kinder sind.»