Kommentar zur Europäischen Union Europäische Union: Jean-Claude Juncker schaltet sich erneut mit Wucht in die Debatte

Es gibt im politischen Europa niemanden, der die Belange und Befindlichkeiten der Gemeinschaft besser kennt als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Der Luxemburger ist seit Jahrzehnten dabei. Er saß als Vertreter seines Heimatlandes schon an Brüsseler Verhandlungstischen, also die Zampanos in Europa noch Kohl, Mitterrand und Thatcher hießen und eine gewisse Angela Merkel noch Helmut Kohls Mädchen aus dem Osten war.
Juncker wird in diesem Jahr 63 Jahre alt. Seine Amtszeit an der Spitze der Brüsseler Behörde endet 2019, ein weiteres Mandat strebt er nicht an. Wer sich Gedanken macht über die Rede zur Lage der Union, die Juncker am Mittwoch im EU-Parlament in Straßburg gehalten hat, sollte all dies im Hinterkopf haben.
Keine riesen Sachen
Juncker hat in seiner Rede das Arbeitsprogramm der Kommission für die verbleibenden zwei Jahre skizziert. Neue Handelsverträge, mehr Cyber-Sicherheit, sauberere Autos: Alles wichtig und richtig, aber keine riesigen Sachen. Darüber hinaus unterbreitete Juncker jedoch einige sehr kühne Vorschläge für einen Neustart der europäischen Integration, ja für einen Umbau der Gemeinschaft nach dem geplanten Austritt Großbritanniens: Möglichst alle Mitgliedstaaten sollen beim Euro und beim Schengen-System mitmachen. Und wenn es nach Juncker geht, sollte es in Zukunft nicht nur länderübergreifende Listen bei Europawahlen geben.
Europa bekäme auch einen (einzigen) Präsidenten, der die Gemeinschaft nach innen und außen repräsentiert und ihr Funktionieren gewährleistet. Es wird nach Junckers Überzeugung eines Tages sogar wieder neue Erweiterungsrunden geben.
Die Umstände sind günstig
Man kann Junckers Vorschläge so verstehen, dass dort jemand an seinem politischen Vermächtnis arbeitet. Einer, der nichts mehr werden will und keine Rücksichten mehr nehmen muss, ermahnt die Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft sowie das Publikum in den Mitgliedstaaten, das große Ganze nicht aus dem Auge zu verlieren und große Antworten auf die große Fragen der Zeit zu geben. Juncker und seine Kommission schalten sich erneut mit Wucht in die Debatte über die Zukunft der Union ein. Sie wollen, dass die Pläne für diese Zukunft nicht allein in Berlin und Paris entstehen.
So gesehen hat Juncker der Gemeinschaft am Mittwoch einen großen Dienst erwiesen. Die Umstände sind günstig für eine Stärkung der Eurozone und der Union insgesamt. Gleich nach dem Urnengang in Deutschland muss der EU-weite Prozess starten, es gibt ein Zeitfenster bis zur Europawahl im Frühjahr 2019. Doch sollte sich niemand Illusionen hingeben: Die Staaten werden in Zukunft wieder mehr Solidarität üben und erneut auf Souveränität verzichten müssen, einige auch auf liebgewonnene Gewohnheiten und verfestigte Laster. Aber gratis ist ein stärkeres Europa nicht zu haben.