Erfahrungsbericht aus Paris Erfahrungsbericht aus Paris: "Bon courage" wird zum Abschied unter Freunden
Paris - Sophia Bobic (18) absolviert gerade in Paris ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in einer evangelischen Kirchengemeinde im Pariser Vorort Bois-Colombes. Hier ihre Eindrücke von der Nacht:
„Es ist 22.47 Uhr, als mein Handy klingelt. Ich sitze in einem Zug nach Bois-Colombes, einem Pariser Vorort, in dem ich seit zwei Monaten wohne und ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviere.
Vor drei Minuten bin ich am Pariser Bahnhof Saint-Lazare eingestiegen, jetzt erkundigt sich mein Vater aus Bonn „Wo bist du? Geht es dir gut?“ Natürlich, warum auch nicht?
Das Attentat auf „Charlie Hebdo“ ist wieder präsent
Ich bin verwirrt, denke an „Charlie Hebdo“, an die Stadt, die ich gerade begonnen habe zu verstehen. Ich denke an meinen Weg heute Abend, der in einem südöstlichen Vorort begonnen hat, mich also einmal quer durch Paris geführt hat.
Ich höre aufgeregtes Deutsch im Zug. Drei Aupairs erzählen atemlos, wie sie gerade noch bei La République waren, ein großer Platz im 11. Arrondissement. Außerdem ein beliebter abendlicher Treffpunkt, um dann in Richtung der vielen umliegenden Clubs oder dem Canal Saint Michel aufzubrechen.
Jetzt scheinbar Schauplatz unfassbarer Szenen. Die Mädchen erzählen von Polizeiaufgebot und Evakuierung. Wir müssen aus dem Zug, Schienenersatzverkehr, wir verabschieden uns schnell und ich denke nach.
La République? Das wäre heute Abend mein Umstiegsbahnhof gewesen, und ich erinnere mich daran, wie die Station und die beiden umliegenden, Oberkampf um Jacques Bonsergent, von der Metro-Anzeige der Linie 5 verschwunden sind. Sie sind am Samstagmorgen immer noch geschlossen.
Freitagnacht verlasse ich schnell den Bahnhof und mache mich auf den Weg zum Ersatzbus, im Vorbeigehen höre ich einen RATP-Angestellten, der eine Frau informiert. Nein, nicht informiert. Ich höre fast geflüstert: „Man sagt 18 Tote“, mehr Informationen gibt es im Moment nicht.
Die Nachrichten verbreiten sich
Ich bekomme die ersten SMS: „T'es où?“, wo bist Du?
Im Bus treffe ich zufällig einen Bekannten, er entschuldigt sich hektisch und zeigt auf sein Handy. Den Rest der Fahrt verbringt er damit, alle Pariser Nummern in seinem Verzeichnis anzurufen und beendet jedes Gespräch mit „Und bleib zu Hause, ja?“
Zu Hause, das ist für mich Bois-Colombes, Nachbarort von Colombes, wo es im Januar in einer bak ein Geiseldranma gegeben hatte, dass glücklicherweise unblutig endete. Die Gemeinde hat sich irgendwie noch immer nicht davon erholt.
Hier habe ich auch endlich Internet, drei Liveticker, Gespräche über Skype und im Minutentakt ankommende Nachrichten von Freundinnen aus Paris, Frankreich und weiß Gott woher leisten mir den Rest der Nacht Beistand. Zwei meiner Mitbewohnerinnen melden sich, sie waren am Abend in Paris und werden erst morgen kommen. Ich telefoniere mit einem Freund, der grade ein FSJ in Israel macht, es ist ein absurder Moment des gegenseitigen Verständnisses.
Ein ganzes Land im Ausnahmezustand
Die Meldungen kommen an, in Frankreich wird der Ausnahmezustand verhängt. Wikipedia sagt, das geschieht im Falle eines Belagerungskriegs, eines Bürgerkriegs, im Falle von Aufständen und Naturkatastrophen. Um welchen Fall es sich nun hier in Paris handelt?
Heute Morgen wache ich nach einer unruhigen Nacht auf, habe viele Anrufe verpasst. Eine Kollegin, mit der ich heute in Paris verabredet bin ruft an und weiß nicht genau, was sie fragen soll. Können wir? Dürfen wir? Wollen wir?
Obwohl die französische Regierung sich nach allen Kräften um ein Bild der Stärke und der Entschlossenheit bemüht, werden diese Fragen von nun an alle Pariser begleiten.
Das, und ein „Bon courage“, das sich innerhalb weniger Stunden zum universellen Abschied unter Freunden entwickelt hat.“
Aufgezeichnet von Thomas Geisen
