Untersuchung DDR: Kindesmissbrauch wurde tabuisiert - zweite öffentliche Anhörung
Erst kamen die Prügel, dann die sexuellen Übergriffe. Elf Jahre alt ist Renate Viehrig-Seger als der Vater sie ins Wohnzimmer zitiert und von ihr verlangt, ihn anzufassen. Von da an beginnt ein Teufelskreis: Das Jugendamt glaubt dem Mädchen nicht. Im Sportunterricht versteckt sie ihre blauen Flecke. Sie klaut, kommt ins Heim, reißt aus. Man fängt das Mädchen wieder ein, sperrt es erneut in ein Heim. Sie landet im Jugendwerkhof Torgau in Sachsen. Eine geschlossene Disziplinareinrichtung der ehemaligen DDR: ein Heim mit kleinen Zellen mit Gittern an den Fenstern, umgeben vom Mauern. Schon von außen gleicht die Einrichtung einer Haftanstalt. Bis November 1989 durchlaufen mehr 4 000 Jugendliche die sogenannte Endstation im Erziehungssystem der DDR.
Hier sollten aufmüpfige Jugendliche zu sozialistischen Persönlichkeiten „umerzogen“ werden. Doch gebrochen werden sie: Nachts kommt der Direktor in das Zimmer von Renate und vergewaltigt sie. Als sie sich einer Betreuerin anvertraut, bezichtigt man sie der Lüge. Das Mädchen beginnt sein Schweigen.
Unterschiede zu den Fällen in Westdeutschland
Renate Viehrig-Seger ist heute 58 Jahre alt und schweigt nicht mehr. „Ich möchte mit meiner Geschichte allen Betroffenen Mut machen, über ihre Erlebnisse zu sprechen“, sagte sie vor großen Publikum am Mittwoch in Leipzig. Es ist die zweite öffentliche Anhörung von Betroffenen, die in jungen Jahren sexuelle Gewalt erfahren mussten. Die unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hatte dazu am Mittwoch eingeladen. Hier sollten vor allem Betroffene zu Wort kommen, die in der DDR Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. Denn es gibt Unterschiede zu den Fällen in Westdeutschland: Abweichendes und kriminalisiertes Verhalten galt in der DDR in erster Linie als Angriff auf den Staat, nicht auf das Opfer. „Sexueller Missbrauch passte nicht in die heile sozialistische Gesellschaft. Der Staat durfte nicht beschmutzt werden. Das Thema wurde in der DDR noch länger tabuisiert als in Westdeutschland“, erklärte Christine Bergmann, Mitglied der Kommission und ehemalige Familienministerin. Dieses lange Schweigen wirke immer noch nach.
Das sei auch der Grund, warum sich Betroffene, die als Kinder oder Jugendliche in der DDR sexuell missbraucht wurden, nur zögerlich bei der Aufarbeitungskommission meldeten, erklärte auch Sabine Andresen, Vorsitzende der Aufarbeitungskommission. „Das Vertrauen in staatliche Institutionen fällt schwer.“
Das zeigen auch die Zahlen: Seit die Kommission im Jahr 2016 ihre Arbeit begonnen hat, hat sie insgesamt mehr als 1200 Anmeldungen für Gespräche erhalten. 400 Gespräche sind bisher insgesamt geführt worden. Aus der ehemaligen DDR gab es bisher nur 100 Anmeldungen, 50 Betroffenen konnten zu Wort kommen.
Täterzentriertes Strafrecht
150 Fälle aus der DDR wurden inzwischen genauer untersucht und auch historisch und rechtlich eingeordnet. In einer knapp 200 Seiten starken Expertise wurden die Ergebnisse zusammengefasst. Diese zeigen, dass für viele Betroffene die Kindheit in der DDR untrennbar mit den staatlichen politisch-ideologischen Strukturen verbunden war: Das Strafrecht war täterzentriert ausgerichtet – es ging um Bestrafung, Disziplinierung und Wiedereinpassung des Täters, nicht um Aufklärung oder Hilfsangebote für Opfer sexuellen Missbrauchs. Wurden zum Beispiel Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) beschuldigt, wurden sie entlassen, bekamen einen zivilen Beruf, ehe sich Gerichte mit den Taten befassten. „So sollte die Zugehörigkeit zum MfS nicht in den Ermittlungsakten sichtbar sein. Es ging um Geheimhaltungsinteressen, nicht um Opferschutz. Weitere Opfer wurden in Kauf genommen“, erklärte Stefanie Knorr, Co-Autorin der Expertise.
Historiker Christian Sachse, der ebenfalls als Autor der Studie ist und damals als Pfarrer in Torgau lebte, schätzt, dass in der DDR rund 600 000 Menschen zwischen null und 14 Jahren sexuell missbraucht wurden. 84 000 Anzeigen habe es in der DDR gegeben, aber nur rund 20 Prozent dieser Täter hätten Freiheitsstrafen bekommen, berichtete Sachse. Diese Zahlen hätten Auswertungen geheimer Statistiken ergeben. Viel härtere Strafen habe es bei Diebstahl oder politischen Delikten gegeben.
Auch seien in der DDR die Formen der Vertuschung anders gewesen: „Lehrer wurden nicht bestraft, sondern strafversetzt, zum Beispiel in Spezialheime auf dem Land. „Da haben sich die Möglichkeiten für die Täter sogar noch verbessert. In der DDR wurde nicht nur geschwiegen, sondern die Verbreitung von Informationen organisiert eingedämmt“, macht er klar. Sachse bereut heute, dass er die Probleme des Kinderheims in Torgau nicht selbst erkannt habe, obwohl die Einrichtung nur 500 Meter neben seinem Wohnhaus gelegen habe. „Ich fühle mich da auch schuldig. Das war ein echtes Versagen“, sagte er.
Renate Viehrig-Seger erzählt, dass sie heute keine Angst mehr habe. „Ich hasse auch niemanden. Manchmal bin ich wütend. Sie hat ihre Stimme wiedergefunden, führt Zeitzeugengespräche, das Sprechen sei ihre Therapie. Eine stationäre Therapie will sie nicht machen: „Ich gehe nirgendwo mehr hin, wo man mich einsperrt.“