Barmer-Chef im Interview Barmer-Chef Christoph Straub im Interview

Magdeburg - Ein Patient, der in einer Klinik operiert wird, kann nicht mehr sicher sein, dass dies nur aus medizinischen Gründen passiert, sagt Prof. Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer. Mit ihm sprach Bärbel Böttcher.
Herr Prof. Straub, wenn Sie einen Blick auf die Ausgaben der Barmer werfen – wie werden die sich in Zukunft entwickeln?
Christoph Straub: Eine besondere Stärke der deutschen Krankenversicherung ist es, dass alle vom medizinischen Fortschritt profitieren. Und der entwickelt sich rasant. Denken wir beispielsweise an die zunehmend individualisierte Krebsmedizin. Heute werden Tumoren geheilt, bei denen das vor 20, 30 Jahren aussichtslos war. Aber dieser medizinische Fortschritt kostet Geld. Die Ausgaben werden also steigen. Deshalb sollte das deutsche Gesundheitssystem effizienter werden. Das heißt, durch den Abbau von Überversorgung, die es besonders in den Metropolregionen gibt, könnte einiges an Geld sinnvoller eingesetzt werden.
Kritische Stimmen sagen, dass in Deutschland zu viel und zu schnell operiert wird?
Große Fachgesellschaften wie die der Chirurgen haben selbst darauf hingewiesen, dass ein Patient in Deutschland nicht sicher sein kann, nur dann operiert zu werden, wenn es nötig ist, sondern dass es ökonomische Anreize gibt.
Wie kann das geändert werden?
Wir fordern vor diesem Hintergrund sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor wirksamere Qualitätssicherungsmaßnahmen. Zudem sollten komplexe medizinische Leistungen nur in speziellen Zentren erbracht werden dürfen. Denn es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Häufigkeit, in der eine Leistung erbracht wird, und der Qualität.
Die Diskussion um Mindestmengen, also, dass im Sinne der Patientensicherheit bestimmte medizinische Eingriffe in einem Krankenhaus dann durchgeführt werden dürfen, wenn sie in einer gewissen Regelmäßigkeit vorkommen, wird schon lange geführt. Warum ist das so schwer durchzusetzen?
Fakt ist, dass kleinere Kliniken der Grund- und Regelversorgung ein Problem haben, finanziell tragfähig zu bleiben, wenn sie das tun, wofür sie in der Krankenhausplanung vorgesehen sind - eben die Grund- und Regelversorgung. Das liegt daran, dass viele Leistungen in diesem Bereich heute ambulant erbracht werden können und die Vergütungen dafür im stationären Bereich zu Recht niedrig sind. Damit sind sie nicht mehr lukrativ. Also versuchen diese Kliniken, eine Spezialversorgung anzubieten - beispielsweise den Ersatz von Hüft- oder Kniegelenken, Schmerztherapie, Gefäßchirurgie ... Diese Angebote verbessern zwar die finanzielle Situation der Kliniken, sind aber nicht immer zum Nutzen der Patienten.
Droht solchen Krankenhäusern die Schließung?
Nein. Es geht vielmehr darum, gerade im ländlichen Raum die Standorte zu erhalten, aber eine qualifizierte Versorgung anzubieten. Das ist weniger die akut-stationäre, sondern mehr eine ambulante interdisziplinäre Versorgung, in die beispielsweise auch medizinische Fachangestellte, hierzulande unter dem Begriff Schwester Agnes bekannt, einbezogen werden. Kurzum: Die Grenzen zwischen den Sektoren, also dem niedergelassenen Bereich und den Krankenhäusern, müssen überwunden werden. Das würde zugleich helfen, die medizinische Versorgung im ländlichen Raum, wo heute schon viele niedergelassene Ärzte fehlen, sicherzustellen. Dazu sind allerdings eine gemeinsame Bedarfsplanung der Leistungen sowie eine Harmonisierung der Vergütung notwendig. Das heißt, gleiches Geld für die gleiche Leistung, egal ob sie von einem niedergelassenen Arzt oder in einer Klinik erbracht wird.
Sachsen-Anhalt nimmt Spitzenplätze beispielsweise bei den Herz-Kreislauferkrankungen ein, weswegen es gerade die 1. Herzwoche gibt. Was tun die Krankenkassen auf dem Gebiet der Prävention?
Prävention ist wichtig. Es braucht Projekte, die den Versicherten wirklich einen Nutzen bringen. Es reicht jedoch nicht aus, wenn sich nur die Krankenkassen dafür ins Zeug legen. Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Das heißt?
Es hat wenig Sinn, dass eine Krankenkasse in Bewegungsprogramme für Kita- und Schulkinder investiert und gleichzeitig in der Schule der Sportunterricht ausfällt, weil kein Geld vorhanden ist, die Halle oder den Sportplatz zu erhalten oder weil gerade kein Sportlehrer da ist. Es ist auch sinnlos, dass die Kasse ein Programm zur gesünderen Ernährung bezahlt und in den Schulen mittags ungesundes Essen angeboten wird. Und nur wenn Arbeitgeber ein betriebliches Gesundheitsmanagement ernst nehmen, haben unsere wirklich guten Programme in diesem Bereich die Chance, wirksam zu werden. Präventionsprogramme müssen also flankiert werden durch Programme der Kommunen, der Schulträger oder der Arbeitgeber.
Wir haben bisher über die hohen Ausgaben gesprochen. Derzeit haben die gesetzlichen Krankenkassen Finanzreserven von mehr als 19 Milliarden Euro. Da stellt sich die Frage: Können die knapp 300 000 Versicherten der Barmer in Sachsen- Anhalt demnächst dennoch mit Beitragssenkungen rechnen - so wie es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn es in seinem Versichertenentlastungsgesetz angekündigt hat?
Wir haben unseren Beitragssatz, 15,7 Prozent, in den vergangenen Jahren nicht verändert. Wir setzen auf Stabilität. Das angesprochene Gesetz zielt darauf, dass Kassen, die durch Besonderheiten des Finanzierungssystems extrem hohe Rücklagen aufgebaut haben, diese abschmelzen müssen.
Die Barmer hat solche hohen Rücklagen nicht aufgebaut?
Nein, wie die ganz überwiegende Zahl bundesweiter Kassen haben wir das nicht getan.
Ihre Kasse erhebt neben dem allgemeinen Beitragssatz von 14,6 Prozent einen kassenindividuellen Zusatzbeitrag von 1,1 Prozent. Das erscheint hoch.
Wir liegen damit lediglich ein Zehntel über dem Bundesdurchschnitt. Allerdings gibt es starke regionale Unterschiede. Und möglicherweise werden 1,1 Prozent aus der Perspektive Sachsen-Anhalts als hoch empfunden.
Die AOK Sachsen-Anhalt erhebt einen Zusatzbeitrag von lediglich 0,3 Prozent. Wie bewerten Sie das?
Das System der gesetzlichen Krankenversicherung wird durch Fehler im Kassenfinanzausgleich zunehmend instabil. Der Gesetzgeber hat das erkannt und will in dieser Legislaturperiode auch eine Reform des Risikostrukturausgleichs in Angriff nehmen.
Sie sprechen den Risikostrukturausgleich an, einen Finanzausgleich zwischen den Kassen, von dem derzeit die Allgemeinen Ortskrankenkassen besonders stark profitieren - was sich eben in hohen Rücklagen zeigt. Hat sich dieser Ausgleich nicht bewährt?
Der Finanzausgleich hat drei Ziele: Es soll erstens Geld dorthin gesteuert werden, wo Versorgung bezahlt werden muss, er soll zweitens einen fairen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen möglich machen und drittens den Anreiz minimieren, möglichst viele junge und gesunde Mitglieder zu gewinnen,. Vor allem die ersten beiden Ziele wurden verfehlt. Und deshalb halten wir es im Grunde für richtig, dass diese hohen Rücklagen jetzt abgebaut werden müssen.
Nur im Grunde?
Nein. Es ist gut, dass in der Kabinettsfassung des GKV-Versichertenentlastungsgesetzes die Abschmelzung der Finanzreserven an eine Reform des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs geknüpft wurde. Das ist der richtige Schritt, damit es zu keiner weiteren Destabilisierung des Kassensystems kommt. (mz)