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Angela Merkel in der DDR Angela Merkel in der DDR: Legenden um die Bundeskanzlerin

Von Holger Schmale und Ralf Schenk 14.05.2013, 21:36
Angela Merkel (l.), unterhält sich als damalige Bundesministerin für Familie und Jugend am 22.08.1992 mit Studenten beim traditionellen Picknick im Park des Festspielhauses in Bayreuth.
Angela Merkel (l.), unterhält sich als damalige Bundesministerin für Familie und Jugend am 22.08.1992 mit Studenten beim traditionellen Picknick im Park des Festspielhauses in Bayreuth. dpa/archiv Lizenz

Berlin/MZ - Wer ist eigentlich Angela Merkel? Eine banale, eine dumme Frage? Schließlich ist sie bald seit acht Jahren Kanzlerin, seit über zwanzig Jahren spielt sie bedeutende Rollen in der Bundespolitik, führt seit 2000 die CDU. Sie ist eine der populärsten Politikerinnen und praktisch pausenlos in der Öffentlichkeit unterwegs.

Und doch: Wer wollte von sich behaupten, diese Frau wirklich zu kennen, die ihr Privatleben weitgehend abschottet und über viele Jahre versucht hat, zwei wesentliche Aspekte ihrer Persönlichkeit auszublenden: ihre Herkunft aus der DDR und ihr Geschlecht. Sie machte sich zu einer Art Neutrum im Hosenanzug, allein definiert durch ihr politisches Dasein.

Das hat sich ein wenig geändert. Ein Wahlkampf zieht herauf, und nun gilt es, die menschliche Seite der Kanzlerin zu präsentieren. Wir registrieren all diese Auftritte - Talkshow bei der Brigitte, Frauentreffen im Kanzleramt, lockere Diskussionen mit Schülern - immer noch überrascht, weil sie so untypisch sind für die normale Angela Merkel. Zuletzt kam am Sonntagabend ein Auftritt im Kino Filmkunst 66 in Berlin-Charlottenburg dazu. Dort hat Angela Merkel „Die Legende von Paul und Paula“ präsentiert - ein Defa-Film von 1973, in dem die Heldin stirbt und ihren schönen, starken Geliebten mit drei Kindern allein zurück lässt.

Die Kanzlerin hat sich dieses zärtliche, hin und wieder auch ruppige Herz-, Schmerz- und Hoffnungsstück bei der Deutschen Filmakademie bestellt. In einer Reihe, die „Mein Film“ heißt und in der „herausragende Vertreter des geistigen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens unserer Republik“ einen Kinofilm präsentieren, der in ihrem Denken eine entscheidende Rolle spielt. Peer Steinbrück von der SPD war schon da, mit dem Kriegsfilm „The Deer Hunter“, auch die Theologin Margot Käßmann, die sich Karl Mays „Der Schatz am Silbersee“ ausgewählt hatte. Nun also die Kanzlerin. Und mit ihr 150 weitere Gäste aus der Branche und der Politik.

Es wird ein launiger Abend, reich an Anekdoten.

Es wird ein launiger Abend, reich an Anekdoten. Und fast frei von jenem Rechtfertigungsdruck, dem sich Angela Merkel, ihre DDR-Vergangenheit betreffend, derzeit immer mal wieder ausgesetzt sieht. Die Kanzlerin dankt den anwesenden Hauptdarstellern Angelica Domröse und Winfried Glatzeder und betont gleich mehrfach, dass der Film „unheimlich gut gespielt“ sei. Besonders habe ihr das Abwandern ins Surreale gefallen, die „Verbindung des Lebens und Träumens in schönen, ganz nahen Bildern“. Man sei da wunderbar entrückt, sagt Merkel, und wer wollte, konnte in ihren Augen eine gewisse Sehnsucht entdecken.

Dann plaudert Angela Merkel aus jener Zeit, in der sie, gemeinsam mit drei Millionen ostdeutschen Zuschauern, den Film zum ersten Mal gesehen hat. Über die Hoffnungen der frühen Honecker-Jahre auf eine vorsichtige Liberalisierung, und wie sie schnell zu Grabe getragen wurden. Ihr Fazit: „In der Summe bin ich nie zu dem Schluss gekommen, mein Leben wäre umsonst, ich sei nur eingesperrt.“ Auch Filme wie „Paul und Paula“ seien eine gute Sache, um die Vielfalt des gelebten Lebens wahrnehmen zu können. Alles in allem: „Ärmer ist die alte Bundesrepublik durch uns aus dem Osten nicht geworden.“

Schon im Vorfeld des Filmabends war darüber spekuliert worden, warum Angela Merkel ausgerechnet „Die Legende von Paul und Paula“ als ihren Lieblingsfilm benannt hätte. Vielleicht sei das vor allem der Figur Pauls geschuldet, der als persönlicher Referent in einem DDR-Ministerium arbeitet und sich vom angepassten Kompromissler zum Vertreter einer utopischen Gemeinschaftsidee entwickelt. Zum leidenschaftlichen Gefühlsmenschen, der sogar zur Axt greift, um eine Tür einzuschlagen: „Paula, ich komme!“ Regisseur Andreas Dresen will wissen, ob Angela Merkel einen Typen wie ihn auch im Kanzleramt einstellen würde. Kurzes Schweigen. Dann: „Ich denke schon.“ Begründung: „Mit der Art des Lebensstils, die bei Paul gesiegt hat, würde ich ihn beschäftigen. So wie er war, als er noch Karriere machen wollte, hätte ich ihn nicht gewollt.“ Spricht’s, lächelt - und ist ganz mit sich im Reinen.

Der Zufall will es, dass parallel zu ihrem Besuch bei „Paul und Paula“ ein Buch über ihre Zeit in der DDR herausgekommen ist. Es heißt „Das erste Leben der Angela M.“, und die Autoren nehmen für sich in Anspruch, bisher unbekannte Details über die junge Merkel herausgefunden zu haben. Sie sollen auf eine größere Nähe zum SED-Staat schließen lassen als bisher bekannt, ist die verkaufsfördernde Behauptung, und der Co-Autor Ralf Georg Reuth nennt Merkel gar eine Reformkommunistin. Doch die Werbung ist Sensationshascherei und eine grobe Täuschung. Das ganze Buch ist ein schönes Beispiel für Dresens traurige Beobachtung, dass ostdeutsche Biografien noch immer ins westdeutsche Feindbild gepresst werden.

Der weit überwiegende Teil dessen, was die Schreiber über das Leben der Schülerin, der Studentin und der jungen Wissenschaftlerin Angela Merkel aufgeschrieben haben, ist lange bekannt. Denn die Journalistin Evelyn Roll hat sich schon vor mehr als zehn Jahren auf Merkels Spuren begeben und in ihrem erstmals 2001 erschienenen Buch „Das Mädchen und die Macht“ ausführlich über das sogenannte erste Leben der Angela M. berichtet. Auch nach Gesprächen mit frühen Wegbegleitern der Pfarrerstochter, die sich womöglich damals besser an die gemeinsame Zeit erinnerten als heute.

In der zweiten Klasse ist Angela Merkel dann Pionierin geworden

So weiß man seit langem, dass ihr Vater Horst Kasner der rote Kasner genannt wurde, weil er zwar Pfarrer, aber eben auch ein Linker war, der gleichwohl mit dem SED-Staat nicht viel im Sinn hatte. Der aber nach Wegen für eine Kirche im Sozialismus suchte und nach Wegen für seine Familie, in diesem System klarzukommen - ohne zu buckeln, aber auch ohne allzu sehr aufzumucken. Damals erzählte Merkel Evelyn Roll: „Meine Eltern haben uns die Entscheidung, ob wir Pionier werden oder in die FDJ gehen, selbst überlassen. Sie haben gesagt, jeder Mensch muss in die Schule gehen, aber nicht jeder Mensch muss Pionier werden.“ In der zweiten Klasse ist Angela Merkel dann Pionierin geworden und später auch ein aktives FDJ-Mitglied. Roll interpretiert diesen Weg als Schutzprogramm für die Kasner-Tochter: „Kein Leben im Widerstand, höchstens im Abstand zur DDR. Und, was eines Tages noch einmal sehr wichtig werden könnte: Sie hat auch nie etwas anderes behauptet.“

Ein weitsichtiger Satz, im Jahre 2001 geschrieben. Der Sonntagabend im Filmkunst 66 ist so ein Tag. Denn hier konfrontiert sie ein Bild-Reporter mit der alten Behauptung, sie sei in ihrer Zeit an der Akademie der Wissenschaften in der FDJ-Leitung für Agitation und Propaganda zuständig gewesen. Sie spricht dagegen lieber von ihrer Aufgabe als Kulturbeauftragte, sie habe Theaterkarten besorgt und Lesungen organisiert.

Zeitzeugen wissen es besser, auch jene, die nun Reuth und sein Co-Autor Günter Lachmann zitieren, wortwörtlich aus Evelyn Rolls Buch übernommen. Da war schon die Rede davon, dass Merkel als Propaganda-Sekretärin für das sogenannte Studienjahr verantwortlich war, eine monatliche Zwangsveranstaltung der FDJ zur politischen Weiterbildung. Und dass sie das zur kritischen Auseinandersetzung mit Entwicklungen in der DDR genutzt hat, zum Ärger der Parteileitung und zum Missfallen der Stasi, wie sich aus Spitzelberichten über sie ergibt.

Aber was sagt nun Angela Merkel zu dem neuen, alten Vorhalt? „Ich kann mich da nur auf meine Erinnerung stützen. (...) Wenn sich jetzt etwas anderes ergibt, kann man damit auch leben.“ Und: „Was mir wichtig ist - ich habe da nie irgendetwas verheimlicht.“

Wer also ist nun Angela Merkel?

Evelyn Roll hatte genau das vorausgesehen. „Man könnte sich durchaus vorstellen“, schrieb sie 2001, „dass eines fernen Tages, vielleicht ganz kurz vor einer wichtigen Wahl, ehrgeizige Schwarz-Weiß-Journalisten von interessierten Kreisen mit Material versorgt werden. Dann werden sie ,aufdecken’, dass Angela Merkel als Schülerin das blaue Hemd einer Organisation getragen hat, die in der Bundesrepublik als verfassungsfeindlich erklärt war, und dass sie Sekretärin für Agitation und Propaganda an der Akademie der Wissenschaften gewesen ist. Vielleicht ist dann gerade eine Generation herangewachsen, die überhaupt keine eigene Anschauung mehr vom Alltag in der DDR hat.“ Tja.

Wer also ist nun Angela Merkel? Allein sechs neue Bücher sind über sie im Wahljahr erschienen. Es sind allenfalls Annäherungen und vor allem ein Beleg für die ungeheure Popularität dieser Frau. Sie bedient dieses Interesse an ihr, gerade jetzt im Wahlkampf, wo es am Ende erneut darauf ankommt, die Nase vorn zu haben. Deshalb zeigt sie nun wieder ein wenig mehr von sich. Und dass in den Osterferien Bilder vom Familienurlaub in Italien erschienen sind, die eine ihren Enkeln zugewandte Oma Merkel zeigen, war vielleicht nicht geplant. Aber doch hilfreich beim Bemühen, das Neutrum im Hosenanzug mit neuen menschlichen Zügen zu zeigen. Angela Merkel hat über die Jahre an der Macht viel Selbstsicherheit gewonnen, auch die Fähigkeit, mit ihren sonst fast verleugneten Eigenschaften als Frau und als Ostdeutsche zu kokettieren. Legendär ist ihr Auftritt mit einem sensationell offenherzigen Dekolleté in der Oper von Oslo im Frühjahr 2008. Und trickreich ist die Wahl von „Paul und Paula“ als Lieblingsfilm, denn er weckt die Erinnerungen von Millionen ehemaligen DDR-Bürgern an eine gemeinsam mit dieser Kanzlerin verlebte Jugend, die sie durchaus gegen das westdeutsche Feindbilddenken verteidigt. Das könnte jetzt wieder einmal nützlich sein. Und das hätte mit der Hollywood-Romanze „Jenseits von Afrika“ nicht funktioniert. Die nannte Merkel vor nicht einmal einem Jahr ihren Lieblingsfilm.

Ab Dezember 1989 war Angela Merkel im Demokratischen Aufbruch aktiv. Nach der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 wurde sie stellvertretende Regierungssprecherin.
Ab Dezember 1989 war Angela Merkel im Demokratischen Aufbruch aktiv. Nach der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 wurde sie stellvertretende Regierungssprecherin.
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Angela Kasner - heute Merkel - fuhr 1973 nach dem Abitur mit Freunden zum Camping.
Angela Kasner - heute Merkel - fuhr 1973 nach dem Abitur mit Freunden zum Camping.
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