Der Albtraum Beslan wird noch lange auf Russland lasten

Moskau/dpa. - Auf Befehl des Tschetschenenführers Schamil Bassajew brachtenTerroristen am 1. September in der nordossetischen Kleinstadt Beslanim Nordkaukasus bis zu 1300 Kinder, Eltern und Lehrer der Schule Nr.1 in ihre Gewalt. Zwei Tage später endete die Geiselnahme nach einerstundenlangen Schießerei in einem Blutbad, dessen Umstände noch immernicht geklärt sind. Auch ein Dutzend Soldaten und über 30 Terroristenwurden getötet, nur ein Geiselnehmer wurde lebend gefasst.
Mittlerweile ist Beslan aus den Schlagzeilen verschwunden, dochder Albdruck wird noch lange auf Russland lasten. Einmal mehr erlebtedie russische Bevölkerung, dass sie schutzlos ist angesichts derBrutalität von Terroristen und der sträflichen Hilflosigkeit ihrerStaatsmacht. Der ungelöste Konflikt in Tschetschenien macht aus derVielvölkerregion Nordkaukasus ein Pulverfass. Präsident WladimirPutin nutzte die Tragödie, um unter dem Deckmantel der Bekämpfung desTerrors länger geplante Einschränkungen des Wahlrechts durchzusetzen.
Zwei Tage lang mussten Aljona (10) und Anna Kadalajew (7) mitihrer Mutter direkt unter einer Bombe in der hoffnungslos überfülltenSchulturnhalle hocken. «Als die Bombe explodierte, fing meine Mutterden Hauptstoß ab», erzählt Anna. So überlebte das Kind, verlor aberein Auge. Ihrer Schwester zerschmetterten Splitter das Bein.
Noch immer ist nicht klar, wie am 3. September das blutige Endebegann. Der offiziellen Version nach explodierte eine Bombe in derTurnhalle. Bewaffnete Väter hätten in Verzweiflung das Feuereröffnet, berichtete dagegen die Zeitung «Iswestija». Aber auch einmissglückter Sturmversuch am helllichten Tag wird in kritischenMoskauer Medien nicht ausgeschlossen.
Die Chancen der Sicherheitsbehörden auf Rettung der Geiseln warenvon vorn herein minimal: Allem Anschein nach wollten die Terroristendie Kinder mit in den Tod reißen. Doch durch unbegreifliche Fehlerwurde selbst die kleine Chance reduziert. Bei der Geiselnahme imMusicaltheater «Nordost» in Moskau im Oktober 2002 waren Psychologenund Anti-Terror-Spezialisten im Einsatz. Mit dem Trick, Betäubungsgaseinzuleiten, gelang die Befreiung, auch wenn 129 Geiseln an fehlendermedizinischer Nachbehandlung starben.
In Beslan gab es nichts - keine Verhandlungen, keine Pläne, keineSpezialisten. «In diesem Krisenstab konnte jeder kommandieren, derwollte», sagte ein Beteiligter der Internet-Zeitung «Gazeta.ru». DerVerdacht liegt nahe, dass kein Verantwortlicher sich die Fingerverbrennen wollte in einer hoffnungslosen Notsituation.
Nach der beispiellosen Woche tschetschenischen Terrors mit fast450 Toten durch Beslan, zwei in der Luft gesprengte Flugzeuge undeine Bombe in Moskau lehnte Putin erneut jegliche Gespräche mitgemäßigten tschetschenischen Separatisten ab. Er nahm Beslan zumAnlass, die Direktwahl der Gouverneure abzuschaffen und die Regelnder Parlamentswahl zu ändern.
Als einzigen Lichtblick sehen Diplomaten, dass Putin seinenfähigen Mitarbeiter Dmitri Kosak in den Nordkaukasus schickte, um dieRegion wirtschaftlich zu stabilisieren. Der Kreml scheint dort bereitzu sein, begrenzt auch internationale Hilfe anzunehmen. Doch dieWunde von Beslan sitzt tief. Der Terrorist Bassajew hat erfolgreichOsseten, Inguschen und Tschetschenen gegeneinander aufgehetzt.
Die 35 000 traumatisierten Einwohner von Beslan erleiden denAlltag, der für Russland nach Katastrophen üblich ist. Die Verletztensind aus Krankenhäusern und Kuren heimgekehrt. Bei den Hilfszahlungengreifen nach Medienberichten Korruption, Betrug und Missgunst umsich. Sektierer bieten trauernden Eltern für zehntausende Rubelangebliche Hilfen an, um die Kinder wieder zum Leben zu erwecken. AmRand der Stadt liegt der neue Totenacker mit 330 Gräbern.