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Wird "Görliwood" blau? Bürgermeister Görlitz: AfD könnte Wahl vor CDU gewinnen

Von Jan Sternberg 15.06.2019, 08:23
Europastadt und  beliebte Filmkulisse: Die Altstadt-Brücke verbindet den deutschen Teil von Görlitz (im Bild) mit der  polnischen Seite.
Europastadt und  beliebte Filmkulisse: Die Altstadt-Brücke verbindet den deutschen Teil von Görlitz (im Bild) mit der  polnischen Seite. dpa

Görlitz - An der Backsteinmauer unweit des Görlitzer Neißeufers steht in großen weißen Lettern: „Wählt Thälmann!“ Der Spruch markiert die Anfänge von „Görliwood“, von Görlitz als Film-Drehort und Kulisse. Er stammt ursprünglich von einer DDR-Fernsehproduktion über den Kommunistenführer, den die Nazis ermordeten.

Auf dem Bürgersteig davor bleibt eine Seniorin stehen und sagt: „Ich wähle Wippel!“ Sebastian Wippel, 36, Polizeioberkommissar, ist der AfD-Kandidat zur Oberbürgermeisterwahl.

Am Sonntag tritt er in der zweiten Runde gegen den einzigen verbliebenen Gegenkandidaten Octavian Ursu von der CDU an. Es könnte das erste Mal sein, dass die AfD ein Rathaus erobert. Daher interessiert sich jetzt die ganze Republik für eine OB-Wahl in einer 56.000-Einwohner-Stadt.

Bürgermeisterwahl in Görlitz: Abstimmung für die AfD als Zeichen gegen Bevormundung?

Die Seniorin sagt: „Jetzt wollen sie uns wieder vorschreiben, dass wir den nicht wählen dürfen, aber das ist mir egal.“ Sie hält es für Bevormundung, dass alle außer der AfD zur Wahl des CDU-Manns aufrufen: die Grüne Franziska Schubert, die im ersten Wahlgang mit 27 Prozent knapp Dritte wurde, die „Bürger für Görlitz“ - und auch die Stars von Görliwood. „Wählt weise“, haben Schauspieler und Produzenten aus Deutschland, Großbritannien und den USA in einem offenen Brief den Görlitzern geraten. Dass das „wählt nicht Wippel“ heißen soll, war jedem klar.

Als Antwort stellte die AfD ein Plakat auf Facebook, das an Blockbuster erinnern soll: „Hollywood mag ihn nicht – ganz Sachsen liebt ihn. Sie nannten ihn Wippel.“ Und zugleich lud der Kandidat die Filmschaffenden auf einen Kaffee ins Rathaus ein, wenn er denn gewählt wird. „Görlitz bleibt auch unter einem AfD-Oberbürgermeister Europastadt“, schrieb Wippel dazu.

So sieht also der Spagat der AfD aus, wenn die Macht irgendwo in Reichweite ist: Sie attackieren das „Establishment“ - und versichern zugleich, dass keiner vor ihnen Angst haben müsste. Wippels Wahlkampfthema ist die Sicherheit in der Grenzstadt. Wird er gefragt, was das konkret bedeutet, sagt er: Zwei Streifenwagen mehr im nächtlichen Einsatz. Bleibt alles im Rahmen?

In Görlitz verfängt sein Stil. Christian Eulitz läuft an der Thälmann-Kulisse vorbei, die sie hier mit einem trotzigen Stolz als Teil der Stadt akzeptieren. Er wird auch Wippel wählen, sagt er. „Wippel ist Polizist, Ursu ist Trompeter am Theater. Ich vertraue dem Polizisten mehr.“ Und dass er in der AfD ist? „Na und?“, fragt der Görlitzer zurück. Nicht nur in Görlitz ist es längst kein Tabubruch mehr, AfD zu wählen. Die Rechtspartei gehört zum Mainstream. Das verändert den Umgang mit ihr.

Am 1. September sind Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg, in aktuellen Umfragen liegt die AfD in beiden Bundesländern auf Platz 1. Ein Sieg Wippels könnte ein weiteres Signal sein: Denn Görlitz ist die Heimatstadt von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Hier muss er im September sein Landtags-Direktmandat gewinnen, um noch irgendetwas zu bleiben in der sächsischen Union.

In Sachsen und Brandenburg hat die AfD bei den Kommunalwahlen besonders auf dem Land abgeräumt, sie dominiert Kreistage, Stadträte und Gemeindeversammlungen. Die blaue Wucht sorgt für eine Normalisierung, notgedrungen.

„Wenn die Leute von der AfD vernünftige Vorschläge machen, arbeiten wir mit ihnen zusammen“, sagt etwa Raik Nowka, Kreischef der CDU in Spree-Neiße, von Görlitz aus direkt hinter der Landesgrenze in Brandenburg. „Sie haben ihre Sitze im Kreistag ja nicht im Lotto gewonnen, sondern wurden gewählt.“

Und im benachbarten Oberspreewald-Lausitz sagt der designierte CDU-Fraktionschef Niko Gebel: „Die beste Idee für unsere Heimat zählt, egal, von wem sie kommt.“

Normalisierung bedeutet nicht gleich eine schwarz-blaue Annäherung. Es heißt zunächst einmal, der neuen Macht auf Augenhöhe gegenüberzutreten. Nur was folgt dann? Auch wenn Wippel in Görlitz nicht Rathauschef werden sollte - er hat dafür gesorgt, dass die AfD jetzt mit 13 Sitzen stärkste Fraktion im Stadtrat ist. Die anderen Fraktionen haben eine deutliche Mehrheit gegen sie. Dennoch ändert der blaue Block die Spielregeln.

Rolf Weidle ist die graue Eminenz der Görlitzer Kommunalpolitik. Der 72-jährige Mediziner sitzt seit 20 Jahren im Stadtrat, er hat die Liste „Bürger für Görlitz“ gegründet, die bei der Wahl drittstärkste Kraft wurde. Er wirbt nun für CDU-Mann Ursu, um Wippel zu verhindern.

Weidle sitzt in einem urigen Café direkt neben dem Rathaus und macht sich Sorgen um Görlitz, um die Lausitz, um Ostdeutschland. Er sagt: „Wenn diese zerstörerische Diskussions-Unkultur nicht verschwindet, dann schwindet meine Hoffnung, dass sich dieses Land noch einmal erholt.“

Görlitz ist auf einer demografischen Achterbahn und gerade wieder auf dem aufsteigenden Ast. „20.000 junge Menschen haben Görlitz nach der Wende verlassen“, sagt Weidle, „da braucht es eine Generation, bis sich das wieder erholt. Aber die Leute kommen doch: 3.000 Polen haben sich auf der deutsche Seite angesiedelt, 1.500 Rentner kamen aus dem Westen, „und junge Leute wollen auch zurück.“ Deshalb meint OB-Kandidat Ursu: „Nur eine familienfreundliche, weltoffene Europastadt Görlitz wird erfolgreich wachsen.“

Politiker und Bürger in Görlitz vor der Bürgermeisterwahl: Sorge um das Image

Denn eigentlich wurde es wieder besser in Görlitz. Aber jetzt reden wieder alle über Wippel und die AfD. Viele Görlitzer haben Angst, dass die Achterbahn deswegen wieder nach unten kippt.

„Die ganze Republik guckt auf uns, das macht so viel an unserem Image kaputt“, sagt Danilo Kuscher. Der 35-jährige ist frisch für eine Bürgerliste in den Stadtrat gewählt worden. Zehn Jahre lang hat er in einem leerstehenden Kühlhaus am Stadtrand ein soziokulturelles Zentrum aufgebaut. Er sorgt sich, dass die Jungen, Kreativen, Digitalen, die er anlocken möchte, bald einen großen Bogen um die Stadt machen.

Aber auch Lokalpolitiker Kuscher sagt: Mit den AfD-Leuten im Stadtrat wird man reden müssen. Klare Kante, wenn es um ihre Ideologie geht. Aber was, wenn sie eine Parkbank wollen? Auch da ist Kuscher klar: „Dann müssen wir über unseren Schatten springen, zustimmen - und ihnen die Opferrolle nehmen.“ (mz)