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Lost Place in HalleHalles vergessene Kultstätte aus dem Dritten Reich - Statuen, Stalaktiten und Stacheldraht

Vergessen im Unterholz liegen im Norden von Halle die letzten Reste eines geheimnisumwitterten Nazibaus. Die hallesche Thingstätte war das Vorbild für berühmte Open-Air-Arenen wie die Waldbühne in Berlin.

Von Steffen Könau 04.02.2023, 07:15
Hinter rostigem Stacheldraht liegen die Ruinen der Thingstätte in den halleschen Brandbergen. Foto: Steffen Könau

Halle (Saale)/MZ - Von der Decke hängen tatsächlich echte Stalaktiten. Weiße Kalkfäden, fünf, sechs Zentimeter lang, die sich aus den Porphyrsteinen ins Düstere winden wie dürre Finger, bleich beleuchtet vom Licht, das durch bemooste Glasbausteine fällt. Ein Stück der behelfsmäßigen Mauer aus DDR-Zeiten ist eingedrückt worden, dahinter liegt ein finsteres Gewölbe, gewundene Gänge in die Dunkelheit und zurück in die Zeit.

Die ehemalige Rednertribüne auf dem Dach der Kuppelhalle.
Foto: Steffen Könau

Der Bau, heute fast nicht mehr auffindbar am Rande eines Parkplatzes in der Nähe der Brandberge im Norden von Halle, erinnert mehr an einen zerfallenen Weinkeller oder eine vorzeitliche Burgruine als an weltbekannte Open-Air-Arenen wie die Berliner Waldbühne oder die Freilichtbühne Loreley am Rhein. Und doch ist das, was für zufällig vorbeikommende Spaziergänger wie eine beliebige Steinmauer aussieht, der letzte Rest einer sogenannten Thingstätte. Hier in Halle steht das Vorbild nicht nur der Konzerttempel in Berlin und am Rhein, sondern auch der Bühnen im sächsischen Schwarzenberg und in Kamenz nordöstlich von Dresden.

Thingplatz in Halle: Überreste aus dem Dritten Reich

Die Kuppelhalle wurde bereits vor Jahren zugemauert, allmählich zerfällt das Denkmal.
Foto: Steffen Könau

Halbrund, etwa vier Meter hoch und aus Porphyrsteinen gemauert sind die Überreste des Kultbaus aus dem Dritten Reich - ein zugewachsener Lost Place von historischer Bedeutung. Im Februar 1934 weihten die Nazis hier den ersten von für ganz Deutschland geplanten 400 bis 1.200 Thingplätzen mit der Uraufführung eines Stücks des Dichters Kurt Heynicke ein.

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Der in Zeitz aufgewachsene Autodidakt bot in „Neurode“, Untertitel „Ein Spiel von deutscher Arbeit“, rund tausend Darsteller auf, die vor mehreren tausend Zuschauern zeigten, wie sich die nationalsozialistische Propaganda ihre neue Kultur für die „Volksgemeinschaft“ vorstellte: Alte Mythen, neue Helden, Pathos und Pomp, eingebettet in ein Kollektiverlebnis, das die Grenzen zwischen Bühne und Publikum verschwimmen ließ.

Im Inneren wartet ein dunkles Gewölbe darauf, eines Tages zusammenzustürzen.
Foto: Steffen Könau

Die Ruinen der Anlage, ein paar vom Wald verschluckte Gebäude, die an überwachsene Maya-Bauten im Dschungel von Belize erinnern, lassen die ehemals gewaltigen Ausmaße des Freilichttheaters heute kaum mehr erahnen. Doch als Propagandaminister Joseph Goebbels, Vater der Idee von der Wiedererrichtung der angeblich urgermanischen „Thingplätze“, im Sommer 1934 nach Halle kam, strömten mehr als 200.000 Menschen nach Kröllwitz, um den Auftritt von Hitlers fanatischem Scharfmacher zu erleben.

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Lost Place: Skulpturen mit Nazi-Herkunft am Kurt-Wabbel-Stadion in Halle

Die Zuschauertraversen und die Bühne, von Ludwig Moshamer entworfen und von Halles Stadtarchitekten Wilhelm Jost gebaut, sind verschwunden. In den 50ern entstanden auf dem Areal Gebäude für die Martin-Luther-Universität. Später wurden Neubauten für ein Studentenwohnheim errichtet und ein Sportplatz rückte bis an die Kuppelhalle aus Löbejüner Porphyr heran.

Die Bildhauer Alfred Vocke geschaffenen überlebensgroßen Arbeiterskulpturen haben noch zu DDR-Zeiten am halleschen Stadion Asyl gefunden.
Fotos: Steffen Könau

Damals ist die „Ehrenhalle der Arbeit“ bereits zugemauert. Die sechs überlebensgroßen Skulpturen idealisierter Arbeiter, geschaffen vom Bildhauer Alfred Vocke, hatten trotz ihrer Nazi-Herkunft an der Außenmauer des Kurt-Wabbel-Stadions am anderen Ende der Stadt Asyl gefunden. Zweimal wird ein Zaun um das Erbe des Bösen gezogen: Der ältere trägt eine verrostete Stacheldrahtkrone, der jüngere ist ein grünes Baumarktmodell. Beide sind kein Hindernis für neugierige Lost-Place-Erforscher, wie zahlreiche Fotos und Filme im Netz zeigen.

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Studentenwerk Halle sorgt für Sicherung - Stadtverwaltung sieht sich nicht zuständig

Für die Stadt Halle ist das verschüttete Erbstück vor allem lästig. Während Berlin oder Kamenz die Geschichte ihrer Thingstätten so erfolgreich mit Großkonzerten der Stones, von U2 und Roland Kaiser überschrieben haben, dass bei „Waldbühne“ und „Hutbergbühne“ niemand mehr an Hitler, Goebbels und deren Blut- und Boden-Ideologie denkt, hofft die Vaterstadt des ersten derartigen Baus auf gnädiges Vergessen.

Eine Ansichtskarte aus den 30er Jahren zeigt die Ausmaße der ersten Thingstätte Deutschland, die 1934 in Halle eröffnet wurde.
Fotos: Steffen Könau

Die Stadtverwaltung sieht sich nicht zuständig für die Restgebäude, die wegen ihrer geschichtlichen, kulturell-künstlerischen und wissenschaftlichen Bedeutung auf der Landesdenkmalliste stehen. Der Eigentümer, das Studentenwerk Halle, bemühe sich aber um die Sicherung der Anlage, heißt es. Detlef Kohrs, erst seit vergangene Sommer Geschäftsführer der Anstalt des öffentlichen Rechts, zeigt sich überrascht. Er wusste bislang nicht, dass zum Studentenwerk offenbar auch ein Nazi-Denkmal gehört.

Halle (Saale)/MZ - Von der Decke hängen tatsächlich echte Stalaktiten. Weiße Kalkfäden, fünf, sechs Zentimeter lang, die sich aus den Porphyrsteinen ins Düstere winden wie dürre Finger, bleich beleuchtet vom Licht, das durch bemooste Glasbausteine fällt. Ein Stück der behelfsmäßigen Mauer aus DDR-Zeiten ist eingedrückt worden, dahinter liegt ein finsteres Gewölbe, gewundene Gänge in die Dunkelheit und zurück in die Zeit.

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