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Sportgeschichte Sportgeschichte: Mit Scherenschlag und Superjahr

Von Holger Zimmer 11.02.2007, 16:58

Böhlitz-Ehrenberg/MZ. - "Ich mag keinen großen Bahnhof", sagte Eberhard Dallagrazia und fuhr zum Geburtstag mit seiner Frau Karin in den Urlaub. Gefeiert wird danach im kleinen Kreis und am 10. Mai, wenn sich die Elf von Chemie Leipzig trifft, um zum 43. Mal auf den DDR-Meistertitel anzustoßen, gibt der Jubilar einige Euro mehr in die Mannschaftskasse.

Begonnen hatte "Ebs", wie ihn seine Freunde nennen, beim unbeschwerten Straßen-Fußballspiel in Hartha. Später lernte er Schlosser, erwarb die Sonderreifeprüfung und studierte in Berlin Sport. Zum Praktikum kam er nach Weißenfels, wo die Fortschritt-Fußballer auf ihn aufmerksam wurden und ihn bereits in der Reserve spielen ließen. Später wurde er Lehrer an der Goethe-Oberschule. Dallagrazia war kaum älter als seine Schützlinge, hatte aber bei ihnen einen Stein im Brett, weil er auch im schwierigen Geräteturnen freiwillig Nachhilfestunden gab.

Nach der nicht als Meisterschaft gewerteten Übergangsrunde stieß er 1956 zum Kader des Aufsteigers. Der damals 35-jährige Torwart Otto Rosenheinrich empfing ihn mit der provokanten Frage: "Kannst du auch Fußball spielen?" Dennoch meint Dallagrazia heute: "Einen größeren Zusammenhalt als in Weißenfels habe ich nicht kennengelernt." Nach den Spielen saß man gemeinsam zusammen, aber dennoch herrschte Respekt. So fragte er vorsichtig den fast 17 Jahre Älteren: "Herr Straube, kann ich mit ihnen trainieren?" Denn der Neuling wollte sich schnell einen Stammplatz erkämpfen. Sogar bei den Leichtathleten war er, um seine Schnelligkeit zu steigern.

Nach Platz neun 1956 schrammte Fortschritt zweimal knapp am Abstieg vorbei. "Wir waren nicht die besten Fußballer, doch unser Trumpf war die mannschaftliche Geschlossenheit." Und über sich sagt der 70-Jährige: "Ich war nie ein großer Torschütze, habe mich aber im Laufe der Zeit mit Überblick und technischen Fertigkeiten zum Spielgestalter entwickelt." Dennoch zeichnete "Ebs" Dallagrazia für wichtige Treffer verantwortlich. So brachten auch seine Tore zu den 1:1-Unentschieden gegen Rotation Leipzig und in Halle jene Punkte, die 1957 für den Klassenerhalt wichtig waren. Unvergessen dabei sein Scherenschlag, als er gegen Rotation den Ball volley zum Ausgleich einschoss. Spannend war es 1958, als nur das Torverhältnis für Weißenfels und gegen Halle entschied. Da schoss Dallagrazia Fortschritt beim 2:0 gegen den Sechsten, Dynamo Berlin, auf die Siegerstraße. Mit einem Kopfballtor überwand er Willi Marquardt. Und beim 4:0 gegen Zwickau brach er nach dem Treffer von Heinz Elzemann (68.) nur vier Minuten später endgültig den Bann, nachdem er sich in der Pause schon auswechseln lassen wollte. Es folgte das "Superjahr 1959" mit Platz sechs und nach dem Weggang von Trainer Herbert Worb und dem Rauswurf gestandener Routiniers der Abstieg 1960. Der SC Lok Leipzig warb ihn ab.

1963 entstand aus diesem Team und Rotation der SC Leipzig mit den vermeintlich besseren Akteuren. Der Rest musste zu den Chemikern der Messestadt. Für sie absolvierte Eberhard Dallagrazia zu Saisonbeginn zwei Begegnungen, bevor er wegen einer schweren Hepatitis aufhören musste. Am 10. Mai 1964 saß er dann unter 10 000 Leipzigern beim 2:0 in Erfurt. Die Freude über den unerwarteten Titel überwog, obwohl sein Anteil am Erfolg klein blieb.

Gegen Derby County London versuchte er ein Comeback, das leider erfolglos blieb, um dann ab 1971 - nach dem Abstieg - Chemie als Trainer wieder in die Oberliga zu führen. Dafür hängte er sogar den geliebten Lehrerberuf an den Nagel, so dass er nach dem Abstieg 1974 als stellvertretender Leiter eines Jugendwohnheimes arbeiten musste. An Chemie, das nun wieder im Leipziger Fußball den Ton angibt, hängt sein Herz freilich noch immer.