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Sachsen-Anhalt und Niedersachsen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen: Bei Gneisenaus grasen die Pferde

Von Andreas Montag 15.10.2004, 17:18

Halle/MZ. - Jakob Michael Reinhold Lenz fällt mir ein. Der Pfarrerssohn aus Livland, Kant-Schüler und Goethe-Fan, den sie Ende 1776 nach einem mysteriösen Vorfall aus der Stadt Weimar gejagt haben, fort aus des nunmehr ungnädigen Meisters Nähe - man erinnert sich des unglücklichen Dichters immerhin noch. Nicht, dass jeder zum Namen Lenz auch die passenden Werke parat hätte. Wer verlangte das schon. Aber es könnte eine Ahnung aufsteigen, die fast schon ein Vermissen genannt zu werden verdiente.

So träumt es sich gut beim Streifen durch die Börde, Marienborn im Rücken, Sommerschenburg, Sommersdorf, Harbke vor Augen. Orte, die dem Westen so nahe waren, dass sie jahrelang weggeschlossen blieben. Namen darunter, von denen ich niemals auch nur gehört hatte bis zu dieser Verrücktheit, einer Grenze nachzuspüren, die doch alle am liebsten vergessen wollen.

Dabei entdeckst du vergessene Geschichten wie wilde Blumen in verwachsenen Gärten, du erkennst sie und bist, wie im Traum, nicht einmal besonders überrascht. Als ob es eine heimliche Verabredung gegeben hätte mit dem Schloss der Gneisenaus in Sommerschenburg. So lässt es sich träumen. Es könnten die alten Zauber, von denen Schiller schwärmte, binden. Auch wenn man heute, unter kultivierten Menschen, natürlich von kulturellen Kontexten sprechen muss, um verstanden zu werden. Kulturelle Kontexte, das hat Schmiss.

Wie es Simon Le Bon von der Achtzigerjahre-Combo Duran Duran jetzt in einem Interview mit der in Berlin erscheinenden "tageszeitung" so unübertrefflich ausgedrückt hat: "Wir waren wie Inseln in einem Gesellschafts-Raum-Kontinuum. In uns materialisierten sich gewisse, in der Luft liegende gesellschaftliche Entwicklungen." So war das also. Und unsereins hat noch in der Zone gehockt.

Auch Lenz, der alte Grübler, war solch eine Insel im Gesellschafts-Raum-Kontinuum. Er hat es wahrscheinlich sogar gewusst. Schließlich hat er bei Meister Kant in Königsberg Philosophie gehört. Wir aber kreiseln alle in dieser kosmischen Suppe herum wie Entengrütze im Teich. Wer weiß, was sich daraus noch materialisieren wird.

Das Schloss von Sommerschenburg hat eher das gegenteilige Problem. Es wird, wenn ihm keiner hilft, über kurz oder lang zerfallen. Schon von weitem sieht man, dass die neugotische Pracht wenigstens einen Anstrich vertragen könnte. Aus der Nähe betrachtet, fällt der Befund ernüchternder aus.

Gegenüber der verrammelten Zufahrt schießen Unkräuter und wüstes Gestrüpp in den Himmel, ein verwittertes Schild lässt abgekühlten Investorenmut aus Nachwendetagen ahnen: Wohnen im historischen Schlossgarten, zehn Einfamilienhäuser sollten es werden. Es wurde nichts, die Natur hat gewonnen, die alten Mauern liegen stille.

Vor der Einfahrt parkt ein nicht mehr ganz neuer BMW, vom Hofe her hört man Rösser wiehern. Schlendernd finde ich schließlich einen Zugang, mit jedem Schritt tritt der Verfall der Gebäude plastischer zu Tage. Zur Schlosstür führen ein paar ausgetretene Steinstufen, ein seitlich eingelassenes Eisen empfiehlt sich dem Träger schmutziger Stiefel - doch wozu? Niemand wird erwartet, verschlossen ist die Tür, vergilbt das Plakat hinter dem schmutzigen Fensterglas, die Schlesische Staatsoper Bytom ist längst weitergezogen.

Im Schlosshof grasen tatsächlich Pferde, ein nicht mehr ganz junger Mann in Jeans und Nylonjacke schüttelt mir bereitwillig die Hand. Nein, der Eigentümer sei er nicht. Einem Bekannten von ihm gehöre das Objekt, einem Unternehmer. Wir ahnten es seit der Tafel am Park, die von hochfliegenden Träumen erzählt. Der Schlossherr hatte große Pläne, bestätigt der Mann auf dem Hof, aber dann ist ihm irgendwie alles schief gegangen.

Die Geschichte hat etwas von einem Western, der Cowboy erzählt, ich höre zu. Wir sollten jetzt eigentlich Marlboro rauchen, dann wäre die Szene perfekt. So aber geht er wieder zu seinen Mustangs, ich habe mich artig bedankt, er hackt ein paar dornige Disteln vom Wege.

Und neben dem Schloss, im Schatten wuchernden Gesträuchs, entdecke ich den Findling, dessen Inschrift auf den 23. Februar 1932 datiert ist: An diesem Tag war Friedrich-August Graf Neidhardt von Gneisenau 50 Jahre Besitzer von Sommerschenburg. Gneisenau? In der Tat: einer aus der Familie des großen Generals, der wie Blücher auf Napoleons Truppen losging und als Held der Befreiungskriege im Jahre 1815 von seinem Preußenkönig Sommerschenburg zum Geschenk erhielt - und nach seinem Tode ein Mausoleum samt Denkmal von der Hand Christian Daniel Rauchs.

Die ältesten Spuren der Herrschaft am Ort gehen auf das 10. Jahrhundert zurück, die Grafen von Walbeck sollen die Erstbesitzer gewesen sein. Ein Bergfried beim Schlosse bezeugt noch die uralte Geschichte des Ortes. Die Gneisenaus, unter deren Ägide das neue Schloss anstelle des alten Baus entstanden war, sind 1945 vertrieben worden. Wechselnde Nutzer folgten, als Krankenhaus, Altenheim und Schule diente das Haus - bis es nun ausgedient zu haben scheint.

Im Dorf, beidseits der Straße lang hingestreckt, hat man sich unterdessen auf die Neuzeit eingestellt: Eigenheime riechen nach Farbe und Krediten, sauber schaut es aus. Und die freiwillige Feuerwehr hat ihren verstorbenen Kameraden ein Denkmal gesetzt, das wie eine versteinerte Kleckerburg aussieht.

Weiter geht es, nach dem tausendjährigen Harbke hinüber, wo die Veltheims seit 1308 saßen. Einem aus ihrer Familie, dem schillernden Intellektuellen Hans Hasso von Veltheim (1885-1956), begegnen wir später als Schlossherrn von Ostrau bei Halle.

In Harbke aber, wo es einen Lustgarten zu bewundern gab, ist für das Jahr 1805 ein Besuch Goethes notiert, den der Arzt Gottfried Christoph Beireis aus dem benachbarten Helmstedt zu den Veltheims schleppte. Vierzig Jahre später ließ die Familie den ersten Braunkohle-Schacht in Harbke niederbringen - eine Zukunft begann, die längst schon wieder Vergangenheit ist.

Auch das Kraftwerk von Harbke ist stillgelegt. Wo einst die Grenze die Welt versperrte, sind die Wege nun offen. Ruhig liegt das Land, als wollte es Luft holen für nächste Jahrhunderte. Fortsetzung folgt.