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Russland Russland: Wenn in Sankt Petersburg die Sonne nie ganz untergeht

21.06.2005, 11:43
Ein Straßenkünstler findet in St. Petersburg sein Publikum. Die Weißen Nächte von Petersburg sind der langersehnte Höhepunkt des Jahres. (Foto: dpa)
Ein Straßenkünstler findet in St. Petersburg sein Publikum. Die Weißen Nächte von Petersburg sind der langersehnte Höhepunkt des Jahres. (Foto: dpa) EPA

Sankt Petersburg/dpa. - In den Weißen Nächten von Sankt Petersburg nimmt zu dieser Zeit erst alles seinen Anfang.

Ausgelassen feiern die 17- bis 18-jährigen Mädchen und Jungen ausdem Admiralitäts-Stadtteil das Ende ihrer gemeinsamen Schulzeit.«Heute Nacht wollen wir nur noch tanzen und Spaß haben», ruft eine Schülerin mit hochgesteckter Frisur, die sich bei zwei Freundinnen untergehakt hat. Alle Mädchen laufen mit einer Eleganz in ihren hochhackigen Sandalen, als hätten sie nie anderes Schuhwerk getragen.

Die Mitschüler hingegen fühlen sich in ihren neuen Garderobesichtbar unwohl. Grinsend ziehen zwei Jungen einander mit dem Schnittihrer Anzugjacken auf, um sich dann eine Verlegenheitszigaretteanzuzünden. An einer Anlegestelle am Ufer der Newa wartet dasAusflugsboot, das die Schulklasse in den wenigen Stunden bis zumnächsten Sonnenaufgang durch die Kanäle und Flüsse der nördlichstenMillionenstadt weltweit schippern wird.

In den kurzen Juninächten erfüllt sich die Vision desStadtgründers, Zar Peters des Großen, der Sankt Petersburg vor 300Jahren am Ufer des Finnischen Meerbusens aus dem Boden stampfen ließ.Die jüngste Metropole Europas ist nicht nur Russlands Tor zum Westen,sondern zugleich auch das Fenster in Richtung Osten, durch das sichdas Riesenreich in diesen Wochen von seiner romantischen, prächtigenund unbeschwerten Seite zeigt.

Zumindest im Sommer wird die Fünf-Millionen-Stadt Petersburg ihremRuf als «Venedig des Nordens» gerecht. In den Weißen Nächten ladenAusflugsboote bis zum frühen Morgen zu einer Spritztour durch denGribojedow-Kanal, auf den Flüssen Moika und Fontanka sowie auf derbreiten Newa und ihren Seitenarmen. Mehr als 300 Brücken aus Stein,Stahl oder Holz verbinden die 40 Inseln, auf denen die Stadt steht.

Wer an einem Samstag am Newski Prospekt auf der Anitschkow-BrückeAusschau hält, braucht nicht lange zu warten, bis unter ihm einefröhlich lärmende Hochzeitsgesellschaft hindurchfährt. Angefeuert vonden Gästen, tanzt die Braut im weißen Hochzeitskleid zu wildenRhythmen auf dem Oberdeck.

Vor mehr als 150 Jahren ergötzte sich schon der russischeSchriftsteller Fjodor Dostojewski (1821-1881) am Zauber derPetersburger Sommernächte. In seinen frühen Werken vergleichtDostojewski die Metropole zu Beginn der Weißen Nächte mit einemkränklich blassen Mädchen, das mit einem Mal von Kraft, Ausstrahlungund Schönheit erfüllt werde. «Welche Macht hat diese traurigen Augenzum Strahlen gebracht? Was hat das Blut in die blassen Wangengetrieben?», fragt der Erzähler in der sentimentalen Novelle «WeißeNächte» aus dem Jahr 1848. Dieses Aufleben sei jedoch ebenso schnellwieder vorüber, bedauert Dostojewski. «Wie schade, dass man nichteinmal die Zeit findet, sich zu verlieben.»

Wer im 21. Jahrhundert in den Petersburger Nächten seineliterarische Ader entdeckt, kommt selbst um Mitternacht noch zuseinem Dostojewski. Eine Buchhandlung am Newski Prospekt hat zurHochsaison 24 Stunden geöffnet. Und das dämmrige Grau der Nachtreicht aus, um an einem lauschigen Plätzchen im Zentrum die Worte desMeisters entziffern zu können.

Nach den scheinbar endlosen Monaten der Dunkelheit und Kältefinden die Petersburger in den Weißen Nächten zueinander. ImSommergarten ist im Schatten antiker Statuen kaum eine freie Parkbankzu finden. Paare flüstern eng umschlungen miteinander. Wer sich einekleine Wohnung mit den Eltern teilt oder mit drei Kommilitonen ineinem Wohnheimzimmer wohnen muss, erlebt die romantische Zweisamkeitauf den Parkbänken der Metropole. Dabei bleibt alles züchtig. Selbstweit nach Mitternacht geht es in den dämmrigen Parks so gesittet zu,als wären die Liebespaare Protagonisten in einem Gedicht.

In den Wochen von Ende Mai bis Mitte Juli wandelt sich die Stadtin eine riesige Flaniermeile. Vergessen sind die langen Monate, indenen das Leben aus feuchter Kälte, Gedränge in der U-Bahn und demmonotonen Grau zwischen der Etagenwohnung am Stadtrand und derArbeitsstelle besteht.

Zu den Weißen Nächten putzt sich die Stadt heraus. Vor allem diePetersburgerinnen auf den Straßen sind deutlich eleganter gekleidetals der durchschnittliche ausländische Gast im berühmten PetersburgerMariinski-Theater. Aber auch viele Spaziergänger, die nur ihren HundGassi führen, tragen ein Jacket.

Der Zauber der Weißen Nächte lockt Touristen aus aller Welt zuzehntausenden in die einstige russische Hauptstadt. Nur schwerfälligstellt sich die Stadt auf die Bedürfnisse der Ausländer ein.Mancherorts jedoch sind beinahe revolutionäre Innovationen zuentdecken. An der Isaaks-Kathedrale verkündet ein Schild auf Russischund sogar auf Englisch, dass der Aufstieg zu den Kolonnaden zwischen19 Uhr abends und 5 Uhr morgens geöffnet sei.

«Wir machen das in diesem Jahr zum ersten Mal», berichtet dieKassiererin in ihrem modernen Schalterhäuschen am Fuße derKathedrale. Die ältere Dame kommt beim Kassieren der 100 Rubel (3Euro) Eintrittsgeld ins Plaudern. Für sie selbst seien die kurzenNächte in Petersburg nichts besonderes, betont sie.

«Über 40 Jahre habe ich in Murmansk an der Eismeerküste gelebt»berichtet die Frau, die sich mit ihrem Vornamen Antonina vorstellt.«Wenn man da oben in den Weißen Nächten im 5. Stock eines Hauses ausdem Fenster schaute, ging die Sonne überhaupt nicht mehr unter,»erinnert sie sich.

Petersburg sei für sie deshalb eine südliche Stadt. Noch weitersüdlich halte sie es jedoch nicht aus. Sie habe die dunklenSommernächte am Schwarzen Meer in schlechter Erinnerung. «Das fandich gruselig. Warme Nächte müssen hell sein, der Winter ist dochschon dunkel genug», sagt die resolute Kassiererin, ehe sie dennächsten 100-Rubel-Schein in Empfang nimmt.

Selbst ein leichter Nieselregen kann die Petersburger in jenenNächten nicht von den Straßen vertreiben. Vor einem renovierten Hotelin der Kleinen Meeresstraße zwischen Newski Prospekt und Isaaks-Kathedrale hockt eine Künstlerin unter einem aufgespannten Schirm vorihrer Staffelei. Auf die Frage, ob sie das besondere Licht der WeißenNächte inspiriere, schüttelt die Frau nur abwesend mit dem Kopf.

Sie sei mit einer Auftragsarbeit spät dran und müsse das Werk amnächsten Tag abliefern. «Das schaffe ich nur, wenn ich die Nacht hierdurcharbeite», erklärt die Zeichnerin, während sie die etwas zuwuchtig geratenen Fensterbögen der Hotelfassade retuschiert.

Um Mitternacht ist es im Zentrum von Petersburg noch so hell, dasskeine Straßenlaternen brennen. Am Rande des gewaltigen Schlossplatzesvor der Eremitage steht ein Lada mit geöffneter Heckklappe. ZweiFrauen und ein Mann um die 40 genießen die Nacht und feiern mit ihrenKindern das Ende des Schuljahres. Der Mann, Sascha, schwärmt vonseiner Armeezeit im ostdeutschen Peenemünde, während zwei Kinder mitihren Rädern über den Schlossplatz kurven.

«In Deutschland hätten die Kinder natürlich auch Lampen an ihrenFahrrädern», tönt der Hüne Sascha. Aber in Petersburg brauche mansowas nicht. «Jetzt ist es ja die ganze Nacht über hell und im Winterkann man gar nicht Fahrrad fahren», lautet die Erklärung.

Einer seiner Begleiterinnen wird kalt. «Gieß mir noch etwasWärmendes ein», sagt Nadja. Sascha greift nach einer Flasche mitklarem Inhalt auf der Hutablage. Daneben stehen offene Tüten mitGebäck, Salzgurken und Obst.

Selbst um kurz vor ein Uhr nachts ziehen bei Nieselregen nochhunderte Menschen über den Schlossplatz. Reiterinnen bieten eineRunde auf ihren Pferden an. Unter einem Vordach stehen zwei Künstlerin Regencapes, die die Fassade der Eremitage in Öl verewigen. Weildie beiden Toiletten-Busse vor dem Museum schon geschlossen haben,schlägt sich ein halbes Dutzend Schülerinnen gackernd in die Büsche.

An der Fontanka, die quer durch das Zentrum in Richtung Newafließt, ziehen drei junge Männer und ein blondes Mädchen vorbei.Einer tritt übermütig seinen bunten Rugby-Ball in die Luft. Das Eiprallt von einer Häuserwand ab und fliegt über das Geländer in dieFontanka. Der Pechvogel schaut bedrückt, die anderen feixen. Als diedrei jungen Männer Anstalten machen, in den tiefer gelegenen Fluss zuspringen, ruft das Mädchen: «Ihr Spinner». Lachend laufen die vierjungen Leute weiter in Richtung Newa.

Wie ein Magnet zieht nach Mitternacht die gewaltige Schlossbrückean der Eremitage die Nachtschwärmer an. Die einen hasten zur Newa, umes noch rechtzeitig nach Hause in die nördlichen Stadtteile zuschaffen. Die anderen wollen an der Verbindung zu Wassiljewski-Inselein berühmtes Petersburger Spektakel erleben.

Jede Nacht um 1:35 Uhr heben sich die beiden jeweils 3100 Tonnenschweren Brückenflügel in die Höhe, um Öltanker und mit Holz beladeneFrachter passieren zu lassen. Wer es bis dahin nicht über die Brückegeschafft hat, muss fast zwei Stunden warten, bis die Brückenflügelsich wieder schließen.

Zwei Polizisten riegeln die Zufahrt und den Zugang zur Brücke ab.Die Zuspätgekommenen tragen ihr Schicksal mit Fassung. In den WeißenNächten von Sankt Petersburg kommt es auf eine Stunde mehr oderweniger unter freiem Himmel nicht an. Schon um kurz nach 2 Uhrmorgens kündigt das erste Rot über der Peter-und-Paul-Festung denneuen Tag an.