Reaktion Reaktion: «Sind nur noch ein Entwicklungsland»
Halle/MZ. - Das fordert Fragen heraus: Wie ist solch eine Leistungsexplosion zu erklären? Wie kann eine US-Staffel mit dem überragenden Michael Phelps den Weltrekord gleich um dreieinhalb Sekunden steigern? Wie ist es möglich, dass die australische WM-Dritte von 2007, Stephanie Rice, sich bis zu ihrem Olympiasieg in China um unglaubliche elf Sekunden über 400 Meter Lagen verbessern kann? Im vorigen Jahr schwamm eine Frau die 100-Meter-Rückenstrecke in unter einer Minute, 2008 sind es zwölf. Die Teams der USA und Australiens, Schwimmer aus Frankreich, Italien oder Japan sorgen vornehmlich für die Rekordflut.
Rätsel für Henneberg
"Das ist mir ein Rätsel, was da abgeht. Wir tappen völlig im Dunkeln, welche Trainingsmethodik hinter solchen Steigerungen steht", sagt der Magdeburger Schwimm-Trainer Bernd Henneberg. Seine Athleten Antje Buschschulte und Christian Kubusch erhalten in Peking mit dem deutschen Team eine Lehrstunde nach der anderen. Der 62-jährige stellt ernüchtert fest: "Wir sind nur noch ein Entwicklungsland im Schwimmen, eine Randgruppe."
Es müssten sich Dinge grundlegend ändern, wenn Deutschland wieder Sieger haben wolle, sagt Henneberg. "Die Athleten müssen an ein großzügiges und konsequentes Fördersystem gebunden werden, so professionell wie in den USA oder Australien. Dort liegt der Fokus auf hartem Training und gleichzeitig sozialer Absicherung."
Unverständlich ist es für ihn auch, dass der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) den Trainern keine Informationen beschafft über das erfolgreiche Trainingssystem in Amerika und Australien. Dabei gebe es deutsche Schwimmer wie Anne Poleska, die in den USA trainieren und dort vieles mitbekommen. "Das ist nicht nur meine Meinung", sagt Bernd Henneberg. "Andere Trainer sehen das ebenso."
Rummel um Anzüge
Der Lehrer am Magdeburger Sportgymnasium hält nichts davon, den so genannten Schwimm-Wunderanzügen viel Bedeutung beizumessen. "Christian Kubusch hat mir gestern am Telefon von einer Begegnung mit Österreichs Schwimmer Markus Rogan berichtet. Rogan hat ihm gesagt: ,Ihr mit euren Anzügen. Das ist so, als ob Michael Schumacher mit einem Dreirad ein Formel-1-Rennen fährt´", erzählt Henneberg. Zwar meint auch er, dass die von den Deutschen getragenen Adidas-Anzüge der australischen Speedo-Kreation LZR Racer unterlegen sind, aber das allein könne nicht die krassen Leistungsunterschiede erklären.
Es überrascht nicht, dass angesichts der Weltrekord-Flut Gerüchte über neue Dopingmittel die Runde machen. Damit soll es angeblich möglich sein, der Muskulatur mehr Sauerstoff zuzufügen. "Es gibt Möglichkeiten, an der Sauerstoffversorgung zu drehen", sagt Professor Wilhelm Bloch, der an der Deutschen Sporthochschule Köln das Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin leitet. "Es verbietet sich aber, den Weltrekord-Schwimmern Doping zu unterstellen, so lange Derartiges nicht bewiesen ist." Für ihn ist eines entscheidend: Wie gelingt es, die Ermüdung hinauszuzögern und die Leistungsfähigkeit so lange zu erhalten? Auf jeden Fall geht es Bloch wie vielen anderen. "Ich sitze bei den Schwimm-Übertragungen vor dem Fernseher und denke: Was passiert denn da? Da muss etwas enorm verbessert worden sein, vielleicht das Trainingssystem."
Auch den bekannten Doping-Experten Wilhelm Schänzer, Leiter des Instituts für Biochemie an der Sporthochschule, beschäftigt die Rekordschwemme. "Eine letzte Sicherheit haben wir nicht, dass leistungssteigernde Substanzen nicht verwendet werden", meint er. "Skepsis ist allemal angebracht bei diesen Leistungssteigerungen."