Leserbrief Leserbrief: Offener Brief an die Stadträte Wittenbergs
Sehr geehrte Stadträte von Wittenberg,
würde man dieser Tage nach einem Preis suchen, um das Engagement der russischen Frauen-Punkband Pussy Riot treffend zu würdigen, dann müsste man ihn das „Unerschrockene Wort“ nennen. Einen Preis, der Menschen auszeichnet „für unerschrockenes Auftreten Unbill in Kauf zu nehmen“.
Zum Glück gibt es genau diesen Preis
und der Hauptausschuss der Lutherstadt Wittenberg hat nach intensiver Beratung und aus
guten Gründen und völlig zu Recht vorgeschlagen diesen Preis der Lutherstädte an „Pussy
Riot“ zu verleihen.
Doch leider hagelt es jetzt, wie ich höre und lese, abstruse Kritik, die von großem Unwissen,
Vorurteilen und fataler Ablehnung geprägt ist. Auf MDR-Figaro hat Friedrich Schorlemmer
gesagt:
„Wenn man den Preis ruinieren will, muss man das so machen. Die jungen Damen
meinten sie werden weltbekannt wenn sie einfach vor dem Altar richtige deftige
Schweinereien loslassen. Was das mit politischen Protest zu tun hat möchte ich gern
wissen, angefangen vom Namen dieser Band.“
Diesem Wissensbedarf möchte ich gern nachkommen und schicke Ihnen im Anhang eine
ausführliche Preisbegründung. Sie soll diejenigen ermutigen, die den Vorschlag unterbreitet
haben, daran festzuhalten und sich ihm Rahmen der Jury der 16 Lutherstädte für diese
Preisverleihung einzusetzen. Soweit ich die anderen Vorschläge kenne, ist bei allem
Respekt und Anerkennung für die Nominierten keiner mit dem Mut dieser Frauen
vergleichbar.
Ich schicke diese Begründung aber auch an die Kritiker in der Hoffnung, dass sie die Fakten
und Argumente aufnehmen und sich ernsthaft durch den Kopf gehen lassen, ob ihre Skepsis
berechtigt ist und ihre Ablehnung Substanz hat. Gerade am Ursprung der Reformation sollte
das Bewusstsein dafür wach gehalten werden, dass die Kirche ein geeigneter Ort ist, um
gegen Unterdrückung, Unfreiheit und Demütigung zu protestieren und es auch heutzutage
elementare Gründe für diesen Protest gibt. Das unerschrockene, freie Wort und die Suche
nach Wahrheit dürfen nicht vor der Kirchentür halt machen. Das hat Martin Luther, die
Bekennende Kirche und unsere friedliche Revolution im Herbst '89 bewegt. In der Tradition
Dietrich Bonhoeffers besteht der Grundauftrag des Christentums darin, sich deutlich und
unmissverständlich gegen Machtmissbrauch und Unterdrückung zu äußern. Die Religion als
solche spielt, wie Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen betont hat, in diesem
Zusammenhang keine Rolle.
Er sprach vom „religionslosen Christentum“. Nadeschda
Tolokonnikowa, die von Jesus Worten und Taten beeindruckt ist, begründete die Wahl der
Kirche als Ort für das Punkgebet auch damit, dass das Christentum „die Suche nach
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Wahrheit und Selbstüberwindung unterstützt“. Das sollten Theologen wie Siegfried
Kasparick und Friedrich Schorlemmer eigentlich wissen, die das „Priestertum aller
Gläubigen“ vertreten. Ich hoffe, dass sie die Größe haben ihre Meinung zu revidieren oder
aber ausführlich begründen, warum sie das alles nur für einen „Muschi-Krawall“ halten.
Ich fürchte nicht, dass die Preisverleihung an Pussy Riot den Preis kaputt macht. Ganz im
Gegenteil: Das unerschrockene Wort soll doch Zivilcourage und nicht besinnliche Andacht
auszeichnen und ginge tatsächlich an furchtlose und würdige Preisträger. Anders als der im
vorigen Jahr vorgesehene „Quadriga Preis für Aufbruch, Erneuerung und Pioniergeist“ an
Wladimir Putin. Es wird nicht passieren, dass der „Baum der orthodoxen Kirche im
Luthergarten eingeht“ wie der „Russland-Kenner“ Heinz Wehmeier befürchtet.
Denn zum
Glück besteht kein Zusammenhang zwischen Baumsterben und umstrittenen
Preisverleihungen. Sonst hätte uns der Friedensnobelpreis an Barack Obama schon ganze
Regenwaldregionen gekostet. Mit dem „LennonOno Grant for Peace“, der von Yoko Ono und
Amnesty International an Pussy Riot vergeben wurde und der Nominierung für den
Sacharowpreis des EU-Parlaments, befände man sich sogar in bester Gesellschaft.
Wittenberg wird sich nicht blamieren, allenfalls durch die Rücknahme der Nominierung. Das
dürfte sich dann vermutlich und nachhaltig bis zum großen Reformationsjubiläum erstrecken.
Wie ich gelesen habe, hat es ursprünglich trotz zweifacher Nachfrage der Stadtverwaltung,
keinen Vorschlag für den Preis gegeben. Deswegen hoffe ich jetzt, dass man die
Preisbegründung publiziert und die Wittenberger nach all den Einsprüchen den Mut
aufbringen, die Nominierung für Pussy Riot zu unterstützen und deren unerschrockenen
Protest gegen Putins autoritäre Herrschaft anerkennend würdigen.
Als politisch engagierter Christ kann ich abschließend nur hoffen, dass Sie, geehrte Stadträte,
sich die Zeit nehmen werden um meinen Argumenten zu folgen und eine mutige
Entscheidung nicht revidieren.
Mit freundlichen Grüßen,
Werner Schulz