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Leserbrief Leserbrief: Offener Brief an die Stadträte Wittenbergs

23.10.2012, 18:50

Sehr geehrte Stadträte von Wittenberg,

würde man dieser Tage nach einem Preis suchen, um das Engagement der russischen Frauen-Punkband Pussy Riot treffend zu würdigen, dann müsste man ihn das „Unerschrockene Wort“ nennen. Einen Preis, der Menschen auszeichnet „für unerschrockenes Auftreten Unbill in Kauf zu nehmen“.

Zum Glück gibt es genau diesen Preis

und der Hauptausschuss der Lutherstadt Wittenberg hat nach intensiver Beratung und aus

guten Gründen und völlig zu Recht vorgeschlagen diesen Preis der Lutherstädte an „Pussy

Riot“ zu verleihen.

Doch leider hagelt es jetzt, wie ich höre und lese, abstruse Kritik, die von großem Unwissen,

Vorurteilen und fataler Ablehnung geprägt ist. Auf MDR-Figaro hat Friedrich Schorlemmer

gesagt:

„Wenn man den Preis ruinieren will, muss man das so machen. Die jungen Damen

meinten sie werden weltbekannt wenn sie einfach vor dem Altar richtige deftige

Schweinereien loslassen. Was das mit politischen Protest zu tun hat möchte ich gern

wissen, angefangen vom Namen dieser Band.“

Diesem Wissensbedarf möchte ich gern nachkommen und schicke Ihnen im Anhang eine

ausführliche Preisbegründung. Sie soll diejenigen ermutigen, die den Vorschlag unterbreitet

haben, daran festzuhalten und sich ihm Rahmen der Jury der 16 Lutherstädte für diese

Preisverleihung einzusetzen. Soweit ich die anderen Vorschläge kenne, ist bei allem

Respekt und Anerkennung für die Nominierten keiner mit dem Mut dieser Frauen

vergleichbar.

Ich schicke diese Begründung aber auch an die Kritiker in der Hoffnung, dass sie die Fakten

und Argumente aufnehmen und sich ernsthaft durch den Kopf gehen lassen, ob ihre Skepsis

berechtigt ist und ihre Ablehnung Substanz hat. Gerade am Ursprung der Reformation sollte

das Bewusstsein dafür wach gehalten werden, dass die Kirche ein geeigneter Ort ist, um

gegen Unterdrückung, Unfreiheit und Demütigung zu protestieren und es auch heutzutage

elementare Gründe für diesen Protest gibt. Das unerschrockene, freie Wort und die Suche

nach Wahrheit dürfen nicht vor der Kirchentür halt machen. Das hat Martin Luther, die

Bekennende Kirche und unsere friedliche Revolution im Herbst '89 bewegt. In der Tradition

Dietrich Bonhoeffers besteht der Grundauftrag des Christentums darin, sich deutlich und

unmissverständlich gegen Machtmissbrauch und Unterdrückung zu äußern. Die Religion als

solche spielt, wie Bonhoeffer in seinen Gefängnisbriefen betont hat, in diesem

Zusammenhang keine Rolle.

Er sprach vom „religionslosen Christentum“. Nadeschda

Tolokonnikowa, die von Jesus Worten und Taten beeindruckt ist, begründete die Wahl der

Kirche als Ort für das Punkgebet auch damit, dass das Christentum „die Suche nach

[email protected] www.werner-schulz-europa.eu

ASP 8H259 Rue Wiertz 60 B-1047 Brüssel

Tel 0032 2 28 45399 Fax 0032 2 28 79399

Wahrheit und Selbstüberwindung unterstützt“. Das sollten Theologen wie Siegfried

Kasparick und Friedrich Schorlemmer eigentlich wissen, die das „Priestertum aller

Gläubigen“ vertreten. Ich hoffe, dass sie die Größe haben ihre Meinung zu revidieren oder

aber ausführlich begründen, warum sie das alles nur für einen „Muschi-Krawall“ halten.

Ich fürchte nicht, dass die Preisverleihung an Pussy Riot den Preis kaputt macht. Ganz im

Gegenteil: Das unerschrockene Wort soll doch Zivilcourage und nicht besinnliche Andacht

auszeichnen und ginge tatsächlich an furchtlose und würdige Preisträger. Anders als der im

vorigen Jahr vorgesehene „Quadriga Preis für Aufbruch, Erneuerung und Pioniergeist“ an

Wladimir Putin. Es wird nicht passieren, dass der „Baum der orthodoxen Kirche im

Luthergarten eingeht“ wie der „Russland-Kenner“ Heinz Wehmeier befürchtet.

Denn zum

Glück besteht kein Zusammenhang zwischen Baumsterben und umstrittenen

Preisverleihungen. Sonst hätte uns der Friedensnobelpreis an Barack Obama schon ganze

Regenwaldregionen gekostet. Mit dem „LennonOno Grant for Peace“, der von Yoko Ono und

Amnesty International an Pussy Riot vergeben wurde und der Nominierung für den

Sacharowpreis des EU-Parlaments, befände man sich sogar in bester Gesellschaft.

Wittenberg wird sich nicht blamieren, allenfalls durch die Rücknahme der Nominierung. Das

dürfte sich dann vermutlich und nachhaltig bis zum großen Reformationsjubiläum erstrecken.

Wie ich gelesen habe, hat es ursprünglich trotz zweifacher Nachfrage der Stadtverwaltung,

keinen Vorschlag für den Preis gegeben. Deswegen hoffe ich jetzt, dass man die

Preisbegründung publiziert und die Wittenberger nach all den Einsprüchen den Mut

aufbringen, die Nominierung für Pussy Riot zu unterstützen und deren unerschrockenen

Protest gegen Putins autoritäre Herrschaft anerkennend würdigen.

Als politisch engagierter Christ kann ich abschließend nur hoffen, dass Sie, geehrte Stadträte,

sich die Zeit nehmen werden um meinen Argumenten zu folgen und eine mutige

Entscheidung nicht revidieren.

Mit freundlichen Grüßen,

Werner Schulz