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KRIEGSENDE KÖNIGSBERG IND

06.04.2005, 07:02

Kaliningrad/dpa.In Bunkerraum 13 unter dem Universitätsplatzvon Kaliningrad scheint die Zeit vor 60 Jahren stehen geblieben zusein. Der Wehrmacht-Mantel am Garderobenhaken, die Schreibmaschineauf dem schweren Eichenholztisch, daneben die letzten Lageberichte,eine Landkarte. Alles ist wie am Abend des 9. April 1945, als GeneralOtto Lasch hier gegen 21.00 Uhr die Kapitulation unterzeichnete. FürKönigsberg hatte der Zweite Weltkrieg ein Ende.

Der Lasch-Bunker ist eines der meistbesuchten Museen in der heuterussischen Stadt Kaliningrad. Mehr als 20 000 Menschen drängen sichjedes Jahr durch die 21 Stahlbetonkammern des Befehlsstandes. DerSturm auf Ostpreußens Hauptstadt wurde hier in Miniatur nachgebaut:Fort V, das brennende Schloss, der wuchtige Dohnaturm. Dort schosseinen Tag nach der Kapitulation immer noch eine Wehrmachtkompanie umsich, weil die Soldaten nicht gemerkt hatten, dass alles aus war.

Im Gedenkjahr an den «Schturm Kenigsberga» vor 60 Jahren erwartetder Museumsbunker besonders viele Besucher. Es ist die letzteGelegenheit für ein großes gemeinsames Jubiläum der siegreichenRotarmisten. Sie sollen Anfang Juli mit einem «Walzer des Sieges»auch die 750-Jahrfeier der Stadt eröffnen. Ironie der Geschichte:Auch viele der einst Besiegten werden wieder dabei sein. Für siebegann die Hölle, als der Krieg endete.

Ende Januar 1945 stieß die Rote Armee an das Frische Haff südlichvon Königsberg vor. Damit war Ostpreußen eingekreist, der Weg nachWesten versperrt. Bis zuletzt hatte Gauleiter Erich Koch, einfanatischer Nazi, der Zivilbevölkerung die Flucht verboten. Nun saßendie Menschen in der Falle, während 250 000 Soldaten der DrittenWeißrussischen Front zum Sturm auf die von Hitler zur Festungerklärte Stadt ansetzten.

Nach den Verbrechen, die die Deutschen in der Sowjetunion begangenhatten, lag zum ersten Mal eine deutsche Großstadt vor denRotarmisten. «Wir spürten nur Hass», erinnert sich Alexej Schidow,der als Infanterist am Königsberg-Sturm auf teilnahm, gerade 18 Jahrealt. «An unschuldige Zivilisten hat keiner gedacht. Warum auch? Wieviele Unschuldige hatten die Deutschen in Russland umgebracht?»

Am Morgen des 5. April brach der Sturm los. Stundenlang ließMarschall Alexander Wassiljewski die Artillerie auf die Stadt feuern.Das Donnern der Geschütze und Geheul hunderter Stalinorgelnverdichtete sich zu einem infernalischen Brüllen. Obwohl Gegenwehrsinnlos war, gab General Lasch erst vier Tage später auf, als dieRote Armee schon im Stadtzentrum stand.

Für die Bewohner der Stadt begann nun die Apokalypse. Die Befreiernahmen grausam und völlig enthemmt Rache. Niemand hinderte sie anwillkürlichen Erschießungen, Massenvergewaltigungen, bestialischenFolterungen. «Alles was wir tagsüber sahen, hatte uns so entsetzt,dass niemand mehr ein Wort sprechen konnte. Aber was wir nachtshörten, erschütterte mich noch mehr. Schreie, Hilferufe, Schüsse,Jammern», erinnert sich Michael Wieck in seinem Buch «Zeugnis vomUntergang Königsbergs». Als so genannter Geltungsjude hatte WieckNaziterror und Holocaust überlebt, nun geriet er in die Hölle derer,die er eigentlich als Befreier ersehnt hatte.

Als sich das Chaos ausgetobt hatte, kamen die Seuchen. Typhus.Ruhr. Und der Hunger. Die Trümmerwüste Königsberg, als riesigesInternierungslager abgeriegelt, wurde zum Massengrab. Als 1948 dieletzten Deutschen aus der nun schon Kaliningrad genanntensowjetischen Stadt deportiert wurden, waren von geschätzt 110 000Menschen am Tag der Kapitulation noch knapp 15 000 am Leben. Keineandere deutsche Stadt hat ihre Befreiung so grausam bezahlt.

In Kaliningrad dringt die dunkle Seite der Befreiung bis heutenicht in öffentliche Debatten ein. Die Teilnehmer am Sturm derFestung sind Helden, die man alljährlich mit einer großen Siegesfeieram Memorial der 1200 Gardesoldaten ehrt.

Erst die jüngeren Kaliningrader, für die der Krieg Geschichte ist,beginnen sich mit dem Thema kritischer auseinander zu setzen. AlsWieck vorigen Herbst in der Universität aus seinem gerade aufrussisch erschienenen Buch las, blieb im Hörsaal kein Platz mehrfrei. Auch Gouverneur Wladimir Jegorow, Ex-Admiral der BaltischenFlotte, kam und hörte sichtlich betroffen zu. «Man sollte dieses Buchzur Pflichtstoff in den Schulen machen.»